Das Bärtierchen-Journal
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Maritime Bärtierchen (VII) - Batillipes-Anatomie-Details

Immer wieder fragen Mikroskopie-Amateure nach einem aktuellen Bärtierchen- Bestimmungsschlüssel. Natürlich sollte er möglichst präzise sein, bis hinab zur Art und deren Variationen alles wesentliche enthalten, und, klar, einfach zu benutzen sowie international gültig sein. Kosten darf das Wunderwerk nur wenig und dann müßte es noch in deutscher Sprache abgefaßt sein, natürlich gut bebildert und einfach zu bestellen. Das kann doch wohl kein ernsthaftes Problem sein, oder?

Es wird Zeit, daß wir diese sonnigen Hoffnungen hier ein wenig zerpflücken und die Ansprüche herunterschrauben. Immerhin gibt es   e i n   anerkanntes Gesamt-Bestimmungswerk aus der Nachkriegszeit, verfaßt vom Grandseigneur der italienischen Tardigradenforschung, Giuseppe Ramazzotti, in Kooperation mit Walter Maucci, dem Autor der wohl schönsten Tardigradenmonographie des letzten Jahrhunderts. Das Bestimmungs-Prachtwerk mit dem Titel "Il Phylum Tardigrada" (3. Auflage, 1983) hat einen Umfang von über 1000 Seiten. Angesichts dieser Stoffmenge kann man nun wirklich nicht behaupten, es sei oberflächlich und der hervorragende Ruf der Autoren steht ohnehin außer Frage. Natürlich sollte man in Italienisch fit sein und im Geldbeutel keine allzu empfindlichen Nervenendigungen haben. "Il Phylum Tardigrada" ist selten und wird im Antiquariat normalerweise mehr als 100 Euro kosten.

Andererseits ist das 1000-Seiten-Buch mittlerweile 25 Jahre alt - vermissen wird man deshalb darin zum Beispiel das von der Arbeitsgruppe Kristensen entdeckte, bizarre Wunderwesen namens Tanarctus bubulubus mit dem schönen Schwimmkörper-Rankenwerk, genauso wie das drollige Milnesium tardigradum-Geschwisterchen Milnesioides exsertum mit der extralangen Nase, welches die Tardigradenforscherin Sandra K. Claxton unter anderem in Tasmanien gefunden hat.

Ratsam wäre deshalb die zusätzliche Anschaffung neuerer, ergänzender "Genus-Reviews", welche Teilbereiche des Stammes Tardigrada umfassend darstellen, zum Beispiel die Echiniscen. Aber auch dann wird die Artbestimmung in vielen Fällen noch schwierig oder gar unmöglich sein. Und, wer nun glaubt, daß zum Beispiel so ein ergänzendes, 1 cm dickes Heftchen des Zoologischen Anzeigers (von dem man gleich mehrere braucht) nicht allzuviel kostet, der sei vorsorglich gewarnt: noch teurer ist wohl kaum vorstellbar.

Der Mikroskopie-Amateur wird deshalb seine Bärtierchen oft selbst nicht bis zur Art-Ebene bestimmen können. Nüchtern und weniger perfektionistisch betrachtet, lassen sich die anatomischen Details jedoch auch ohne einen besonderen Artbestimmungsehrgeiz isoliert bestaunen und diskutieren, was wir im Folgenden am Beispiel der Meerestardigraden vom Genus  Batillipes  vorführen möchten.


Die meisten Meerestardigraden haben vorne, mittig einen nach oben zeigenden Mediancirrus, der an eine Antenne oder einen Flugzeugsensor erinnert. In der Tat berichtet der Tardiologe Ernst Marcus, daß die von ihm beobachteten Bärtierchen diesen Mediancirrus quasi als inversen Wasserwächter einsetzten: die Tardigraden suchten tiefere Wasserbereiche auf, sobald die Cirrenspitze Niedrigwasser sondierte. Manchmal tragen die Mediancirren noch eine Art "Mikrowürmchen" unbekannter Funktion am äußersten Ende, wie auf der folgenden Abbildung zu erkennen ist:


[ Mediancirrus bei Batillipes Bärtierchen ]

Mediancirrus (Pfeil) am Vorderende eines Batillipes sp.-Bärtierchens.
Man beachte auch das typische, durchgehende Punktmuster auf der Cuticula.
Bildbreite ca. 30 µm.


Zwei an Augen erinnernde Strukturen am Kopf von Batillipes sind laut einhelliger Ansicht in der Fachliteratur nicht als Sehorgane einzustufen. Dies würde bedeuten, daß ausgerechnet das besonders vitale Batillipes Bärtierchen blind durch den Sand huscht. Aber was soll man machen, wenn weder Augenpigment noch Sehnerv nachzuweisen sind.


[ Augen? bei Batillipes ]

Kopf von Batillipes mit den beiden "Nichtaugen".



Ein weites Feld für die anatomische Dokumentation sind die vielen Nerven und Sehnen. Man kann Batillipes mit Fug und Recht als extrem gut verdrahtet bezeichnen und seine Nerven liegen im wahrsten Sinne des Wortes blank - die nervöse Agilität haben wir ja schon im letzten Bärtierchen-Journal vorgeführt.


[ Nerven und Muskeln im Batillipes Bärtierchen ]

Durchgehend verdrahtet: Nerven und Muskeln im Batillipes sp.-Bärtierchen.
Bildbreite ca. 200 µm.


Die Ausformung des Hinterleibs und die Existenz bzw. das Fehlen eines (Stummel-)Schwanzes werden allgemein als taxonomisch wichtige Kriterien bewertet, obwohl einige Autoren hier, wohl zu Recht, vor Variabilitäten warnen. Manchmal ist der Schwanz nur ein kleiner Knubbel wie hier:


[ Batillipes Po ]

Hinterleib eines Batillipes sp.-Bärtierchens.
Bildbreite ca. 100 µm.


Es kann aber auch vorkommen, daß der Schwanzfortsatz zwar lang, jedoch so dünn ist, daß wir ihn erst beim zweiten Hinsehen und längerer Beobachtung als solches erkennen und von mitgeschleppten Detritusteilchen unterscheiden können:


[ Batillipes Schwanzfortsatz ]

Schwanzfortsatz eines Batillipes sp.-Bärtierchens.
Bildbreite ca. 300 µm.


Wenn dem hoffnungsvollen Hobbyanatomen nun nicht schon die Augen tränen, bleibt als weitere Betätigungsmöglichkeit die Suche nach Dornen und Cirren - so etwas gibt es regelmäßig auch bei Batillipes - äußerst klein, fein und gut versteckt, an den Hinterbeinen, am Rücken ... viel Spaß beim Suchen!



Literatur

S. K. Claxton: Milnesioides exsertum gen. n. sp. n., a New Tardigrade from Australia (Tardigrada, Milnesiidae). Beitrag zum 7. Tardigradensymposium in Düsseldorf, September 1997.
Zoologischer Anzeiger 238 (1999) S. 183 -190.

A. Jørgensen und R.M. Kristensen: A new tanarctic arthrotardigrade with buoyant bodies. Zoologischer Anzeiger 240 (2001) S. 425 - 439.

E. Marcus: Zur Anatomie und Ökologie mariner Tardigraden.
Zool. Jahrb. 53 (1927) S. 487 - 588.

W. Maucci: Tardigrada. Bd. 24 der Reihe "Fauna d'Italia". 388 Seiten. Bologna 1986.

G. Ramazzotti, W. Maucci: Il phylum Tardigrada (3. Auflage).
Memorie dell' Istituto Italiano di Idrobiologia 41 (1983) S. 1 - 1012.


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© Text und Fotos von  Martin Mach