[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]



Die Bärtierchen und das polarisierte Licht (IV)

Wer ein Bärtierchen im polarisierten Licht betrachtet, wird wohl zunächst einmal enttäuscht sein. Normalerweise fallen nur einige hell aufleuchtende Partikel im Magen auf - wohl in erster Linie mit der Nahrung eingeschleppte, mineralische Partikel, ganz einfach Sandkörnchen:


[ Bärtierchen-Mageninhalt im polarisierten Licht ]

Bärtierchen-Mageninhalt im polarisierten Licht. Bildbreite ca. 0,2 mm.

Wo bleibt das wunderbare Farbenspiel, wie wir es von unterschiedlichen Salzen, organisch-chemischen Substanzen, Kunststoffen usw. bei der Betrachtung im polarisierten Licht kennen?


[ Farbenspiel eines kleinen Fetzens von einer Plastikfolie im polarisierten Licht ]

Farbenspiel eines kleinen Fetzchens einer Plastikfolie im polarisierten Licht.
Bildbreite ca. 5 mm.

Falls Sie unserem Vorschlag im letzten Journal gefolgt sind und sich das empfohlene Michel-Lévy-Diagramm im Internet angeschaut haben, kennen Sie bereits die Antwort: Alle im Bärtierchen vorkommenden Bestandteile sind dermaßen dünn, dass die interferenzgebenden Strecken weit geringer sind als die für mineralogische Dünnschliffe üblichen 30 Mikrometer, welche die höchsten Chancen auf prächtige Interferenzfarben bieten.

Immerhin: Bei stärkeren Vergrößerungen erkennen wir, daß die Stilette der Bärtierchen doppelbrechend sind. Wer einen drehbaren Objekttisch hat, kann mitverfolgen, wie die Stilette während des Drehens abwechselnd hell und dunkel erscheinen. Aber auch am festen Objekttisch ist unter gekreuzten Polarisatoren ("Dunkelstellung") erkennbar, dass die Stilette in der Lage sind, die Schwingungsrichtung des polarisierten Lichts zu drehen, so dass eben auch in der Dunkelstellung noch Licht zum Betrachter durchkommt:


[ Bärtierchenstilette im polarisierten Licht ]

Bärtierchenstilette im polarisierten Licht. Bildbreite ca. 100 µm.
Anmerkung: das Foto ist aus technischen Gründen nicht bei maximaler Auslöschung aufgenommen, zeigt deshalb keinen schwarzen Hintergrund.

Das helle Aufleuchten der Stilette ist ein klarer Hinweis auf die doppelbrechenden Eigenschaften des Materials, aus dem sie bestehen.
Allerdings sind eine Menge Materialien doppelbrechend: Quarz beispielsweise (Doppelbrechung 0,009), auch der Apatit der menschlichen Zähne (Doppelbrechung: 0,003), also nicht nur der in der Fachliteratur für die Bärtierchen angegebene Calcit (Doppelbrechung: 0,172).

Im Foto erkennen wir als Stilett-Interferenzfarben lediglich Weiß (an den Stilettspitzen und in den Stilettmitten) sowie Gelb (an der plausiblerweise etwas verdickten Stilettbasis). Wenn Sie mit diesem Hinweis im Kopf nochmals einen Blick auf das Michel-Lévy Diagramm werfen, werden Sie feststellen, daß Quarz und Apatit es - bei der hier anzunehmenden Materialstärke von weit unter 10 Mikrometern - quasi nicht mehr "schaffen" würden, neben dem primären Weiß auch noch ein Gelb hervorzurufen. Sie sind zu schwach doppelbrechend. Nur extrem hoch doppelbrechende Substanzen wie Calcit oder Rutil könnten in einem typischerweise 1, 3 oder 5 Mikrometer starken Stilett diese gelbe Interferenzfarbe bewirken. Wenn wir nun in der Literatur zudem lesen, daß die Stilette stark säureempfindlich seien, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sie zumindest teilweise aus Calcit bestehen.

Die Biomineralisation von Calcit hat es allerdings in sich, wovon Sie sich anhand vieler exzellenter wissenschaftlicher Arbeiten im Internet, beispielsweise über die ebenfalls calcitischen Seeigelstacheln selbst überzeugen können. Schließlich sind ja die Bärtierchenstilette offensichtlich nicht lediglich einfache Calcitkristalle, sondern vielmehr kunstvoll ausgeformte Spezialwerkzeuge, angesichts deren Eigenschaften wir nur ehrfürchtig erschauern können: Wo sonst finden wir derart winzige Messerchen auf biologisch abbaubarer Calcitbasis, mit nur ein paar Tausendstel Millimetern Durchmesser, angeblich zudem bei einigen Arten hohl (Materialersparnis, Gewicht!)? Und sie funktionieren, jeden Tag, weltweit, in multimilliardenfacher Ausfertigung - Respekt!



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach