Zoologische Systematik

- Grundprinzip der Einordnung von Bärtierchenarten in das Tierreich -


Ganz vorne auf einer der faszinierenden Bärtierchen-Monographien von Ernst Marcus prangt der Leitspruch: Sine systemate chaos . Der Leser dieser Monographie soll akzeptieren, daß ein Studium des Tierreichs ohne systematische Einordnung und verstandesmäßige Strukturierung nicht viel Sinn ergibt.

Hier im Bärtierchen-Journal könnten wir uns natürlich auf unseren Amateurstatus berufen und die schwierigen Diskussionen über die artbestimmenden Merkmale der Bärtierchen den Profis überlassen.
Es kann uns als Warnung dienen, daß der professionell-knappe Bestimmungsschlüssel in Hieronim Dastychs Buch über die Bärtierchen Polens schon volle zehn Textseiten umfaßt.
Gerade bei den Wasserbären gilt die Artbestimmung nämlich als besonders kniffelig. Heinz Streble und Dieter Krauter, prominente Autoren des populärsten Bestimmungsbuches für mikroskopische Lebewesen (s.u.), bringen das Problem in gewohnter Kürze, Prägnanz und Ehrlichkeit wie folgt auf den Punkt:

Eine exakte Bestimmung der Bärtierchen anhand der Krallenformen, der Eiformen und der sklerotisierten Einlagerungen (Makroplakoide) im Pharynx ist schwierig.

Andererseits bietet die zoologische Systematik uns die einzigartige Chance, mikroskopische Beobachtungen in vergleichsweise einfacher und doch präziser Form auszudrücken und mitzuteilen. Jedes beliebige Tier kann mit Hilfe der, bereits von Linné eingeführten, Nomenklatur mit einem unverwechselbaren Artnamen beschrieben werden.

In Anbetracht der Schwierigkeit der Artenbestimmung werden wir uns im Bärtierchen-Journal mit einer stark vereinfachten Darstellung der Problematik begnügen müssen.

Betrachten wir ein Beispiel:
Die Artbezeichnung  Macrobiotus areolatus MURRAY, 1907  enthält folgende Informationen: Das erste Wort "Macrobiotus" ist die Gattungs(Genus)-Bezeichnung für eine ganze Gruppe von miteinander verwandten Bärtierchenarten. Diese spezielle Gattungsbezeichnung wurde im ganzen Tierreich nur ein einziges Mal vergeben und ist deshalb unverwechselbar. Das Wort "areolatus" steht an zweiter Stelle in der Artbezeichnung, d.h. in der Hierarchie niedriger. Es kennzeichnet eine ganz bestimmte Art innerhalb der Gattung Macrobiotus.
"MURRAY" ist der Name des Entdeckers, "1907" das Jahr der Erstpublikation. Die Angabe von Entdecker und Publikationsjahr ist nicht zwingend vorgeschrieben und wird deshalb oft weggelassen.
Wenn wir nun in der Fachliteratur unter dem Gattungsnamen "Macrobiotus" nachschauen, finden wir auch die übergeordneten, höheren Ebenen der zoologischen Hierarchie, welche als selbstverständlich vorausgesetzt und bei der Artbezeichnung der Einfachheit halber weggelassen werden. In unserem konkreten Beispiel zählt die Gattung Macrobiotus zur Ordnung der Eutardigrada. Die Ordnung der Eutardigrada wiederum ist Teil des Stammes der Bärtierchen.

Die Felder mit der roten Schrift zeigen uns beispielhaft den Weg der Artbestimmung, anfangend bei der Zuordnung des Stammes bis hin zur genau definierten Art, in unserem Falle Macrobiotus areolatus.

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Tierreich

Stamm

Bärtierchen (Tardigrada)

im gesamten Tierreich noch ca. 30 weitere Stämme mit rund 1 Mio. Arten

Ordnungen

Heterotardigrada

Eutardigrada

Mesotardigrada

Gattungen

Batillipes,
Echiniscus,
Stygarctus
u.a.

Hypsibius, Macrobiotus,
Milnesium ...

 

Arten

mehrere Hundert Arten

Macrobiotus areolatus und Hunderte weiterer Arten

nur eine einzige Art: Thermozodium esakii RAHM



Bei einigen wenigen Arten, wie z.B. bei  Milnesium tardigradum  wird uns die Artbestimmung leichtfallen. Als kleiner Dämpfer sei allerdings erwähnt, daß die Wissenschaftler neuerdings mehrere, einander sehr ähnliche Arten innerhalb einer Artengruppe Milnesium tardigradum unterscheiden.
Die eine oder andere Artbestimmung wird den Leserinnen und Lesern mit Hilfe der Bestimmungsliteratur wohl nach einiger Übung gelingen. Andererseits sind manche Erkennungsmerkmale nur am toten Tier zu sehen, so daß es für den Amateur befriedigender sein dürfte, nur das lebende Tier zu betrachten und sich auf die Gattungsbestimmung zu beschränken.



Literatur:

Ernst Marcus: Tardigrada. Berlin 1936.
Einige Definitionen von Marcus gelten mittlerweile zwar als veraltet. Das Buch ist jedoch nach wie vor interessant zu lesen. Es enthält ausführliche Diskussionen, welche die Probleme der Artzuordnung veranschaulichen.

Als sehr gut lesbare Einführung in die Grundregeln und die Geschichte der zoologischen Systematik allgemein sei allen Leserinnen und Lesern die Lektüre des entsprechenden Kapitels in einem soliden Lehrbuch empfohlen, z.B. in: Alfred Kaestner, Lehrbuch der Speziellen Zoologie. Band I, 1. Teil. S. 1 - 20. Stuttgart 1969.

Heinz Streble, Dieter Krauter: Das Leben im Wassertropfen. Stuttgart 1973, S. 99. Der "Streble-Krauter", die Bibel des Amateurmikroskopikers schlechthin, gibt zwar eine gute Kurzeinführung in die Biologie der Tardigraden, weist jedoch ganz offen auf die Schwierigkeiten der Artbestimmung hin und geht -man kann den Autoren daraus keinen Vorwurf machen- nur auf einige wenige Arten ein.

Beste Bestimmungsliteratur:
G. Ramazzotti und W. Maucci: Il Phylum Tardigrada. Memorie dell'Istituto Italiano di Idrobiologia 41 (1983) S. 1-1012 (nur auf italienisch).

In der gut gelungenen Monographie "Die Bärtierchen" von Hartmut Greven (1980) gibt es leider keine Bestimmungstabelle, welche bis zur Ebene der Art reicht.

Bei Ian M. Kinchin, The Biology of Tardigrades, London 1994, werden, trotz des hohen Buch-Verkaufspreises nur einige wenige, gängige Arten exemplarisch bestimmt.

Hieronim Dastych: The Tardigrada of Poland. Warszawa 1988. Hier gibt es einen Bestimmungsschlüssel, viele Zeichnungen und Mikrofotografien - die Anschaffung lohnt sich auf alle Fälle.

Neben der klassischen, rein morphologischen Betrachtung gibt es mittlerweile auch Literatur, welche das Erbgut als Verwandschaftskriterium berücksichtigt:
James R. Garey, Diane R. Nelson, Laura Y. Mackey, Jia Li: Tardigrade Phylogeny: Congruency of Morphological and Molecular Evidence. Zwar ohne Datum (nach 1995), aber gleich hier
im Internet nachlesbar!


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©Text und Abbildungen von  Martin Mach