Das Bärtierchen-Journal
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Baron Raphael Slidell von Erlanger und die Bärtierchen-Schwanzplatte

Der Zoologe Baron Raphael Slidell von Erlanger (1865 - 1897) war eine besonders schillerne Forscherpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts.
Die wenigen Quellen (siehe Links, unten) zu seinem leider sehr kurzen Leben berichten, daß er aus einer europaweit agierenden Bankiersfamilie stammte,
sein Labor an der Universität Heidelberg aus eigenen Mitteln einrichtete und 1894 die "beautiful Miss Blannerhassett" heiratete, welche nach seinem Tod unter dem Namen Lady Galway durch vielfältige soziale, frauenrechtliche und politische Leistungen, sowie als charismatische Rednerin weltberühmt wurde.

Baron Erlangers wissenschaftliche Ergebnisse stehen nicht immer in Einklang mit der heutigen Sichtweise. Man wird ihm jedoch auf alle Fälle zugute halten müssen, daß vor 1900 nur  sehr  wenige Forscher Bärtiercheneier derart ausgiebig zwischen Deckglas und Objektträger hin- und herwälzten, geschweige denn entsprechende Zeichnungen und gedankliche Folgerungen präsentierten.

Erlangers in wunderbarem Understatement vorgebrachte, beiläufige Erwähnung der Bärtierchen-Augenlinse im Jahr 1894 (!) haben wir schon im Bärtierchen-Journal vom  Juli 2003   gewürdigt. Prof. Reinhardt M. Kristensen aus Dänemark bestätigte die Existenz derartiger Augenlinsen mit Hilfe des Rasterelektronen-
mikroskopes anhand von Dünnschnitten im Jahr 1987, ziemlich genau ein Jahrhundert später.

Erlanger publizierte seine Beobachtungen zur Bildung von Coelomsäcken, d.h. von Ausstülpungen der Bärtierchen-Körperhöhlung im Ei, einem ersten Stadium der Bärtierchen-Gliedmaßenentwicklung, im Jahr 1895. Müßig zu erwähnen, daß er für sein erstes Teilkapitel zur Ei-Entwicklung sage und schreibe 26 (!) Illustrationen bereit stellte und dafür sorgte, daß diese auch durchgehend farbig gedruckt wurden. Wir sollten in diesem Zusammenhang bedenken, daß noch heute so manche wissenschaftliche Publikation aus Kostengründen in Schwarzweiß wiedergegeben werden muß. Auch in diesem technischen Detail war uns Raphael von Erlanger ein wenig voraus. Inhaltlich kann sich das Ganze immer noch gut sehen lassen:


[ Coelomsackentwicklung im Bärtierchenei ]


Schematische Schnittzeichung durch ein Ei des Bärtierchens  Macrobiotus macronyx ,
quer zur Körperlängsachse auf der Höhe zwischen Kopfsegment und erstem Rumpfsegment. Stadium der Coelomsackausbildung.
Abkürzungen: cö - Coelom, cg - Cerebral-Ganglion, ug - Unterschlundganglion, vd - Vorderdarm.
Originalabbildung 20 aus Raphael von Erlangers Publikation von 1895 (siehe Literatur).


Wir können uns gut vorstellen, wie schwierig die durchgehende Dokumentation der Bärtierchen-Eientwicklung für Baron von Erlanger gewesen sein muß, wenn wir selbst ein Bärtierchenei bei stärkster Vergrößerung im Lichtmikroskop betrachten. Zwar gelingt es, dem Ei die eine oder andere Information abzutrotzen, von den vielen Schnittansichten aller Entwicklungsstadien, noch dazu aus unterschiedlichen Perspektiven, wie sie Raphael von Erlanger vorgelegt hat, wären wir jedoch dann immer noch weit entfernt. Die folgende Abbildung zeigt ein reifes Ei mit einem voll entwickelten Eutardigraden, kurz vor dem Schlüpfen. Der Mundapparat ist gut, eine einzelne V-Doppelkralle, direkt unter dem Kaumagen nur noch andeutungsweise zu erkennen. Noch viel schwerer zu leisten ist jedoch die Analyse des weniger stark kontrastierenden, restlichen Zellverbands, weil im Ei eben alles sehr dicht gepackt und auch leider nicht so beschriftet ist, wie wir es gerne hätten.


[ Bärtierchen-Ei ]


Reifes Bärtierchen-Ei der Bärtierchenart Ramazzottius oberhaeuseri . Detailansicht. Gesamtdurchmesser ca. 60 Mikrometer. Der Mundapparat mit Mundröhre und Stiletten,
sowie rundem Kaumagen samt Macroplacoiden ist gut zu erkennen.
Lebendaufnahme, Hellfeld, Ölimmersionsobjektiv 100x/N.A. 1,30.


Weiterhin verweist Herr von Erlanger auf die entwicklungsbiologisch faszinierende, zeitweise Anlage einer Art "Schwanzplatte" im Bärtierchen-Ei von  Macrobiotus macronyx , welche seinen Beobachtungen zufolge nur vorübergehend auftritt und sich gegen Abschluß der Eireifung wieder zurückbildet.


[ Bärtierchen-Ei ]

Schematische Schnittzeichung durch ein Ei des Bärtierchens  Macrobiotus macronyx .


Abkürzungen:
a - After
c - Cerebral-Ganglion
ex - Extremitäten
go - Gonade, Enddarm
ma - Magen
mr - Mundröhre
s - Saugmagen
sp - Schwanzplatte (zentral, gezackt)
ug - Unterschlundganglion.
vd - Vorderdarm

Originalabbildung 16
aus Raphael von Erlangers
Publikation von 1895 (siehe Literatur).


Ob Kollege Professor Ferdinand Richters wohl die prophetische Ankündigung des Barons im Kopf hatte, als er 1909, d.h. 14 Jahre später und 11 Jahre nach dem Tod Raphael von Erlangers, seine Entdeckung des marinen, geschwänzten Tardigraden Batillipes mirus publizierte? Wir werden es wohl nie so ganz genau wissen. Auf alle Fälle gelten die marinen Tardigraden als Vorfahren der terrestrischen Tardigraden und auf diese Weise paßt von Erlangers Befund hervorragend zur heutigen Sichtweise.



Literaturverweise und Links

Weitere Informationen im Internet zur  Familie d'Erlanger   und zu   Lady Galway

Raphael Slidell von Erlanger: Beiträge zur Morphologie der Tardigraden.
Teil I. Zur Embryologie eines Tardigraden: Macrobiotus macronyx Dujardin.
Morphologisches Jahrbuch 22 (1895) 491 - 513. Mit zwei separaten Farbtafeln.


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© Text und Fotos von  Martin Mach