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Lupen für Fortgeschrittene (XVIII)
Verschwommene Historie - über die Anfänge des Lupen-Vergrößerns

Man könnte meinen, dass die Geschichte des Lupen-Vergrößerns mit Hilfe eines schnellen Blicks in die Wikipedia zweifelsfrei zu klären sein sollte. Besonders bei der Frühgeschichte der Sehhilfen scheiden sich jedoch die Geister, stehen in äußerst unterhaltsamer Weise gegeneinander:

(1) Der Bestsellerautor Robert Temple behauptet in seinem, sehr umfangreichen Werk "The Crystal Sun" [Temple 1999], unter anderem wegen der sogenannten Nimrud-Linse (Abb. 1), dass Lupen als Betrachtungshilfen und Arbeitsmittel bereits in der Antike weit verbreitet gewesen seien. In seinem Sinne verstärkend könnten wir hinzufügen, dass besonders das antike römische Kaiserreich, eine wirtschaftliche und militärische Großmacht ohnegleichen, doch wohl in der Lage gewesen sein müsse, ein paar simple Lupenlinsen hervorzubringen!


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Abb. 1: Die sogenannte Nimrud-Linse im British Museum. Sie stammt aus dem antiken Nimrud (heute im Irak gelegen), wurde im Jahr 1850 von Austen Henry Layard ausgegraben und besteht aus Quarz.
Bildquelle user:geni License: CC-BY-SA.


(2) Die universitäre Lehrmeinung, von Wolfgang Gloede auf ca. zwei Textseiten wunderschön knapp zusammengefasst, sieht dies jedoch völlig anders:

"Wer aber den optischen Fachleuten immer noch nicht glauben will und es besser weiß, der versuche doch mal, durch eine solche Linse aus Bergkristall feine Arbeiten auszuführen. Es wird ihm auch nicht für einen einzigen Augenblick möglich sein."

Richard Greef, 1921, zitiert nach [Gloede 1986]


Sogar in der Neuzeit scheinen Lupen im (eigentlich naheliegenden) Werkstatt-Kontext keineswegs üblich gewesen zu sein. Die folgenden Abb. 2 und 3 erlauben eine Rückblende in die renaissancezeitliche Werkstatt von Étienne Delaune, einem berühmten französischen Goldschmied und Medailleur. Zwar trägt der mutmaßliche Meister bereits eine - zu dieser Zeit in besseren Kreisen bereits übliche - altersgerechte Brille, von etwaigen optischen Arbeitshilfen ist jedoch ansonsten nichts zu sehen.


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Abb. 2: Arbeitssituation im Atelier des französischen Goldschmieds Étienne Delaune. Historische Reproduktion eines im Louvre aufbewahrten Stichs von 1576.
Bildquelle [Lacroix 1887].


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Abb. 3: Detailausschnitt von Abb. 2. Obwohl hier anscheinend feine Goldschmiedearbeiten ausgeführt werden, kommen die jüngeren Mitarbeiter augenscheinlich ohne optische Hilfsmittel aus. Lediglich der ältere trägt eine Brille, vermutlich eine zeittypische Fadenbrille. Deren namensgebende Fäden sind leider nur auf einigen wenigen, im Internet gezeigten Direktkopien vom Original-Stich erahnbar. Ohne Anbindung würde eine Brille mit geradem Mittelsteg einfach herunterfallen!


Wir möchten nun jedoch zeitreisend-objektdatierend von der jüngeren Gegenwart ausgehen, anschließend allmählich bis in die antike Vergangenheit und die dortige Arbeitssituation des Metallhandwerkers zurückwandern. Beginnen wollen wir mit einem vergleichsweise modernen Konstrukt, nämlich der Einschlaglupe. Deren älteste Repräsentanten lassen sich ohne besondere Schwierigkeiten datieren. Die folgend abgebildeten zwei Exemplare erscheinen gut geeignet, um stellvertretend die charakteristischen Eigenschaften der frühesten Einschlaglupen zu illustrieren:


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Abb. 4: Sehr alte Einschlaglupe aus Horn. Gehäuselänge (geschlossen) 9,5 cm, Gewicht 38,1 g. Deutlich konvex gewölbte Griffschalen. Vernietung aus Eisen. Gut farbneutrales, jedoch bereits mit bloßem Auge erkennbar blasenhaltiges Glas, die Linsenränder verhältnismäßig grob zugeschliffen. Brechwert 5,7 Dioptrien (einen ca. 1,5 fachen Vergrößerungseindruck liefernd).
Lupen dieses Typs sind laut William Poulet [Poulet 1986] auf Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts zu datieren: Poulet Band I, Belegexemplare Z327, Z348, Z361 und Z362.


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Abb. 5: Sehr alte, ovale Einschlaglupe aus Horn. Gehäuselänge (geschlossen) 7,9 cm, Gewicht 78,0 g. Deutlich konvex gewölbte Griffschalen. Vernietung mit Messinghülsen und zentralen Eisenstiften. Linsenfassung mit Resten von augenscheinlich originaler, dunkelgrüner (!) Farbgebung. Gut farbneutrales, jedoch augenscheinlich blasenhaltiges Glas, die Linsenränder verhältnismäßig grob zugeschliffen. Brechwert 3,7 Dioptrien (einem ca. 1,25 fachen Vergrößerungseindruck entsprechend).
Lupen dieses Typs sind laut William Poulet [Poulet 1986] auf das 18. Jahrhundert (bzw. das Ende des 18. Jahrhunderts) zu datieren: Poulet Band I, Belegexemplare Z337, Z346 und Z354.


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Abb. 6: Vernietung der ovalen Lupe in der Makro-Ansicht. Durchmesser ca. 5 mm.


Interessanterweise sind die Luftblasen in altem Glas nicht immer streng kugelförmig, so wie man es von mikroskopischen Wasserproben her kennt. Statt dessen verraten sie hier durch eher eiförmige Gestalt einen hitzigen Entstehungsprozess in viskoserem Medium:


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Abb. 7: Typische verzerrte Luftblase im Glas der ovalen Lupe (Abb. 5). Maximale Länge ca. 0,2 mm - mit bloßem Auge sichtbar.


Hingewiesen sei noch auf die Möglichkeit, die Oberfläche von gealtertem, um nicht zu sagen: geschundenem Glas unter dem Mikroskop zu studieren:


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Abb. 8: Herstellungs- und altersbedingte Veränderungen der Glasoberfläche der ovalen Einschlaglupe (Abb. 5). Neben der relativ ebenen, polierten Oberfäche sind weite Bereiche mit tieferliegender Lochfraßkorrosion sowie mutmaßlicher Rekristallisation zu erkennen.
Bildbreite ca. 0,8 mm.


Zur Entstehungszeit dieser frühen Einschlaglupen herrschte bereits eine beträchtliche Produktvielfalt. Auch können die gezeigten Geräte in sehr unterschiedlicher Funktion, zum Beispiel im Handel, im Handwerk oder auch einfach als preiswerter Brillenersatz zum Einsatz gekommen sein. In naturgemäß sehr viel geringerer Stückzahl entstanden parallel auch edlere, aufwändig geschmückte Exemplare, die typischerweise jedoch etwas jüngeren Datums sind.
Hoch spezialisierte einstufige Mikroskope (Zirkelmikroskope, "Screw-Barrel"-Mikroskope usw.) für die Wissenschaft können sogar noch älter sein. Sie markieren allerdings eine speziellere Forscher-Nische, die hier ausgeklammert bleiben muss (es sind ja auch keine Einschlaglupen). Einschlaglupen scheinen tatsächlich erst im 18. Jahrhundert entstanden zu sein, fanden dann allerdings sehr schnell weite Verbreitung und sind auch heute noch in vielen Varianten auf dem Markt.


In den nächsten Journalen werden wir ein sehr frühes Exemplar einer Stiellupe betrachten (Mai 2023) und dann im Juni mittels praktischem Experiment der Frage nachgehen, ob und wie ein antiker Medailleur seine Arbeit auch ohne Lupen ausgeführt haben könnte.



Literatur

Es versteht sich von selbst, dass die hier zitierte Literatur dem Umfang des Themas nicht einmal ansatzweise gerecht werden kann. Die folgenden Publikationen möchten wir vor allem deshalb nennen, weil sie uns bei der Datierung konkreter historischer Lupen nützlich waren:

Paul Lacroix [Graveur]: Les Art et les Métiers au Moyen Age. Abb. auf S. 227. Paris 1887.

Raymond V. Giordano: Singular Beauty. 2006. 64 S.
[Anmerkung: Dieser kleine, aber exquisite Ausstellungskatalog zielt im Schwerpunkt auf besonders kostbare einstufige historische Mikroskope ("simple microscopes"), präsentiert jedoch nebenbei auch eine interessante Reihe historischer Lupen und enthält eine gute Bibliographie].

Wolfgang Gloede: Vom Lesestein zum Elektronenmikroskop. S. 10-11. Berlin 1986.

William Poulet: Die Brille. Drei großformatige Bände mit über 2.000 Abbildungen. Bonn 1978.
[Anmerkung: Auch wenn der Titel etwas anderes erwarten lässt, finden sich in den üppig bebilderten Glanzpapierbänden - mit einem Gesamtgewicht von 8 kg - neben vielen Brillen auch reichlich Abbildungen von historischen Eingläsern und Lupen. Als Besonderheit sei erwähnt, dass in großem Umfang historische Gemälde und andere datierbare Bildquellen zur zeitlichen Einordnung der Objekte herangezogen werden.]

Robert Temple: The Crystal Sun. London 1999.



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach