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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #8: Hypsibius scabropygus

Beginnen wir mit einem Portrait!


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Abb. 1: Auge in Auge mit Hypsibius scabropygus. Man beachte die, bereits früher bei Ramazzottius oberhaeuseri gezeigte Makroplakoid-Formation im Kaumagen, welche an die "4" auf einem Spielwürfel erinnert (Ramazzottius oberhaeuseri hat jedoch nie Augenflecke wie der hier gezeigte Hypsibius scabropygus). Bis heute ist übrigens nicht klar, ob Tardigraden ohne Augenflecken nicht doch irgendwie sehen können, quasi nur pigmentschwach sind!

Hypsibius scabropygus ist ein kleines Bärtierchen, nie größer als etwa 320 µm. Es hat Augenpigment und eine enge Mundröhre. Im rundlichen Schlundkopf befinden sich Spalten mit jeweils zwei kleinen, etwa gleich großen Makroplakoiden (Abb. 1 und 2).

Lucien Cuénot (1866-1951), ein französischer Biologe, beschrieb Hypsibius scabropygus im Jahr 1929. In seiner Tardigradenmonographie [Cuénot 1932] listet er sämtliche bis dahin in Frankreich bekannten Tardigradenarten auf. Man könnte nun meinen, dass Cuénots Buch von der etwa zeitgleichen Beschreibung aller bekannten Tardigraden durch Ernst Marcus überstrahlt wurde. Dies würde der Arbeit von Lucien Cuénot jedoch nicht gerecht. Seine Artbeschreibungen sind auch heute noch gut verwendbar, insbesondere die Grafiken fotografisch schwer zu toppen. Da er der Entdecker der hier päsentierten Art ist, gebührt ihm der Vorrang bei den anatomischen Detailabbildungen:


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Abb. 2: Der Schlundkopf von Hypsibius scabropygus mit dem oben erwähnten "Vierermuster", aus Spalten mit jeweils zwei Makroplakoiden bestehend. Das bei anderen Arten im Schlundkopf zu beobachtende und taxonomisch wichtige "Komma" (ein kleiner Knubbel unterhalb der Makroplakoide) fehlt. Abbildung aus [Cuénot 1932].

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Abb. 3: Die Beine von Hypsibius scabropygus unterscheiden sich deutlich voneinander, zeichnen sich zudem durch jeweils unterschiedliche Haupt- und Nebenäste aus. Unverwechselbares Artmerkmal ist die hier gezeigte Oberflächenstruktur des Hinterleibs.
Abbildung aus [Cuénot 1932].

Bei der bildlichen Darstellung der namensgebenden Hinterleibs-Runzeln (vgl. weiter unten, in der grauen Box) kann die Mikrofotografie immerhin ergänzen, deren zeichnerisch nur schwer darstellbare Plastizität besser veranschaulichen:


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Abb. 4: Detailfoto der Struktur am Hinterleib von Hypsibius scabropygus

Man sieht diese besondere Eigenschaft auch deutlich beim seitlichen Blick auf eine Cuticula (d.h. die leere, bei der Häutung abgeworfene "Haut" eines Bärtierchens):


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Abb. 5: Leere Cuticula von Hypsibius scabropygus. Die Runzeln sind hier auch in der Profilansicht eindeutig erkennbar. Links im Bild, am Kopfende, befindet sich übrigens die Ausstiegsöffnung, durch welche das Bärtierchen aus seiner alten Haut entweichen konnte.

Die Krallenform lässt sich ebenfalls an einer abgeworfenen Cuticula studieren - wohlgemerkt ohne ein ausgewachsenes Bärtierchen zu behelligen:


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Abb. 6: Während einer Häutung abgeworfene Cuticula von Hypsibius scabropygus mit einem reifen Ei. In diesem Ei sind bereits fertig entwickelte Stilette, Speiseröhre und der Schlundkopf mit den Makroplakoiden zu sehen. Man beachte auch die geradezu surreal erscheinende, blaue Umrisslinie am Ei, deren Entstehung in den Journalausgaben von Dezember 2023 bis Februar 2024 diskutiert und im März 2024 schlüssig erklärt werden konnte. Diese blaue Linie konnten wir übrigens bei anderen Bärtierchen-Eiern nicht beobachten, behaupten deshalb hier ein wenig keck, dass sie ein ziemlich selektives scabropygus-Artmerkmal sein könnte.

Abb. 6 dokumentiert somit auch die Fortpflanzungsweise der meisten Hypsibius-Bärtierchen: Wie bei Milnesium tardigradum werden die Eier (bis zu 6 Stück) während der Häutung in der alten Hauthülle zurückgelassen und können sich in deren Schutz bis zum Schlüpfen entwickeln.


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Abb. 7: Erweiterter Blick auf die Cuticula von Hypsibius scabropygus. Hier ist neben dem in Abb. 6 gezeigten Ei ein weiteres zu sehen, aus dem das Bärtierchen bereits geschlüpft ist. Man beachte, dass in diesem Fall die Eischale zerknittert und die Kugelgeometrie aufgelöst ist, weshalb die blaue Konturlinie nicht mehr erscheint!


Vertieft Taxonomisches

Der erste Artnamenteil von Hypsibius scabropygus, das "Hypsibius" steht für das Genus (die größere Gruppe, zu der unsere Art gehört). Leichtfertig, wie das Bärtierchen-Journal nun mal ist, könnten wir das "Hypsibius", auf Basis seiner griechischen Wortwurzeln, nun einfach als "High Life" übersetzen.

Deutlich seriöser und intellektuell tiefer schürfend wäre jedoch wohl eine Übersetzung im Sinne von "ÜBER LEBENsfähig/e/r". Diese wäre sogar als perfekt symmetrische Entsprechung zum Nachbargenus Macrobiotus auf gleicher taxonomischer Ebene zu verstehen!

Dank neuerer Untersuchungsmethoden zur Artbestimmung (genetische Analytik, Elektronenmikroskopie, Phasenkontrastmikroskopie) kommt es in der aktuellen Forschung zu tiefergreifenden Artbeschreibungen und damit einhergehend auch zu immer weiteren Art-Aufspaltungen innerhalb der Gruppen, so wie es bereits im vergangenen Monat für Paramacrobiotus richtersi gezeigt wurde.

Dies mag im Sinne der optimalem Artenkenntnis und wissenschaftlichen Gruppenscheidung wünschenwert sein, stellt jedoch die Mikroskopie-Amateure vor erhebliche Probleme, weil sie in der Regel nicht über die genannten, verfeinerten Methoden verfügen. Hinzu kommt, dass die modernen Verfahren, beginnend bei der höchstauflösenden Lichtmikroskopie, nur dann möglich sind, wenn der jeweils untersuchte Tardigrade stark gepresst oder getötet wird. Man stelle sich nun mal den öffentlichen Aufschrei vor, wenn beispielsweise die Bird Watchers ihre Paradiesvögel zur Artbestimmung systematisch abschießen würden! Was im Namen der Wissenschaft möglicherweise zu rechtfertigen ist, erscheint insofern in der Welt des Amateurs und an den Schulen deutlich problematischer.
Im Falle von Hypsibius scabropygus blieben immerhin Gruppenzugehörigkeit und Artbezeichnung unverändert erhalten, so dass der Amateur beim Blick in seinen ollen "Cuénot" nach wie vor auf aktuellem Stand ist.

Der zweite Artnamenteil "scabropygus" bedeutet übersetzt, und etwas unvorteilhaft für den so Getauften "hinterleibs(steiß)grindig". Der Duden definiert nun den "Grind" eindeutig negativ, als Hautausschlag oder Schorf auf einer heilenden Wunde. Hypsibius scabropygus leidet jedoch nicht an derartigen Beschwerden, trägt lediglich deutlich sichtbare kutikulare Verdickungen auf seiner hinteren Rückenpartie. Neudeutsch gesagt liegt hier somit ein klares, taufliches "Fail" vor!
An Hand des spezifischen Krusten-Merkmals ist die Art jedenfalls sehr verwechslungssicher zu identifizieren.


Hypsibius scabropygus findet sich in Moosen, häufig auch in Flechten auf Baumstämmen oder in Koniferenzapfen. Die hier gezeigten Fotos stammen allesamt vom Moosbewuchs auf einer Spiere, den uns ein Leser des Journals freundlicherweise zur Verfügung stellte.


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Abb. 8: Die Moosprobe vom Spierenstrauch beim Wässern in der Petrischale - man weiß vorher nie genau, wer darin wohnt!



Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !


Lucien Cuénot (1932), Tardigrades. Faune de France, 24, Paris, 1-96.

Hartmut Greven (2018), From Johann August Ephraim Goeze to Ernst Marcus: A Ramble Through the History of Early Tardigrade Research (1773 until 1929).
In R. O. Schill (Ed.), Water Bears: The Biology of Tardigrades (pages 1-55). Springer, Cham.

Ernst Marcus (1936). Tardigrada. Das Tierreich, 66. Lieferung. Berlin und Leipzig, 1-340.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach