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Sie fahren jetzt in Urlaub? Möglicherweise stolpern Sie aber vielleicht doch in der Fremde über eine kleine Moosprobe mit Bärtierchen.

So war es zumindest bei uns. Sümeg, ein kleiner Ort in Ungarn, ein wenig nördlich vom Balaton, wird von einem gewaltigen Burgberg überragt. Eine spiralförmig verlaufende Straße führt den Wanderer von der Ortschaft Sümeg aus allmählich nach oben, um den steinigen, kargen Berg herum, bis er endlich vor das Eingangstor zur Festung kommt. Kurz vor diesem Tor habe ich in praller Sonne eine kleine, staubtrockene Moosprobe aufgesammelt, welche das folgende, wie ich meine, besonders bemerkenswerte Lebewesen beherbergt:


tardigrades tardigrada bärtierchen detail echiniscus

Ungewöhnliches Bärtierchen aus Sümeg in Ungarn. Gesamtansicht mit Blick auf die Bauchseite.
Auflicht.
Körperlänge knapp 300 µm.


tardigrades tardigrada bärtierchen detail echiniscus

Ein Tier derselben Art.
Keine Haare, aber dafür ein Horn!
Auflicht.


tardigrades tardigrada bärtierchen detail echiniscus

Bärtierchen wie vorher,
Ansicht von vorne, im Mischlicht.
Man beachte die beiden Hörner und die großen, dunklen Augen.
Und falls das abgebildete Tier Sie vielleicht ein wenig an einen altmodischen Schachtelteufel erinnern sollte:
Täuschen Sie sich nicht - es ist durchaus lebendig.


Zweifellos handelt es sich um ein Bärtierchen, welches als auffälliges Körpermerkmal zwei massive Hörner trägt.


Im Jahr 1906 berichtet die erste einschlägige Publikation (siehe Lit.), noch in recht dürren Worten, über einen Vortrag von Prof. Ferdinand Richters aus Frankfurt, bei dem das gehörnte Bärtierchen erstmals genannt wurde:

"Prof. Richters demonstriert ... zwei neue Echiniscus -Arten: Echiniscus cornutus n. sp. aus der Pfalz, mit dolchförmig modifizierten Haargebilden am Kopf und Echiniscus elegans n. sp. mit point-lace-artiger Struktur des Panzers."

Die ausführliche Erstbeschreibung durch Ferdinand Richters erscheint 1907 im Zoologischen Anzeiger. Diese Charakterisierung ist wunderschön präzise und wohl kaum zu übertreffen. Sie sollten sie deshalb, falls Sie sich für alle Details interessieren, unbedingt im Original nachlesen. Hier wollen wir nur einige der erwähnten, anatomischen Details durch neue Mikrofotos veranschaulichen. Originaltext von Richters:

"Die Art unterscheidet sich auffällig von allen anderen bekannten Echinisci durch die Ausbildung der beiden, bei allen Echinisci vorhandenen Haare hinter dem Kopfabschnitt. Während diese bei den übrigen Arten äußerst feine, an der Basis kaum 2 µ dicke, oft sehr lange Haare (bei  Ech. wendti , von 0,24 mm Körperlänge, z.B. 0,125 mm lang) sind, finden sich hier nur 36 µ lange, aber 6 µ breite, dolchförmige Gebilde, die man dem Sprachgebrauch der Botanik folgend, als geflügelte Haare bezeichnen könnte, denn man kann deutlich das zugrunde liegende Haar und die flügelartige Verbreiterung unterscheiden."

tardigrades tardigrada bärtierchen detail echiniscus

Das Horn, etwas näher betrachtet. Seine Länge beträgt ca. 25 µm. Es ist spitz, dolchförmig, inwendig verstärkt und über eine Art Einschnürung, quasi ein starres Gelenk, mit der Schulterplatte verbunden.


Richters erwähnt ferner eine charakteristische, W-förmige Struktur auf der Schulterplatte. Originaltext von Richters:

"Eigenartig ist die Verteilung der Körnchen auf II. Am Vorderende hebt sich eine Gruppe ab, die nach hinten durch eine W-förmige Figur abgegrenzt ist; das W reicht gerade von dem einen dolchförmigen Haar zum andern; die Ränder der Figur sind doppelt konturiert. Eine mittlere Gruppe ist durch eine körnchenfreie Linie von einer hinteren, einen schmalen Streifen bildenden Gruppe getrennt."


tardigrades tardigrada bärtierchen detail echiniscus

W-förmige Struktur und waagrecht verlaufender, nicht strukturierter Bereich auf der ansonsten strukturierten Schulterplatte.


Die Körperhaltung erscheint stets ein wenig gekrümmt. Alle beobach­teten Tiere in der Probe aus Sümeg bewegten sich vergleichsweise langsam. Der Anteil der gehörnten Bärtierchen an der Gesamtpopulation war eher gering, in viel größerer Anzahl fanden sich Eutardigraden, vor allem Ramazzottius oberhaeuseri .
Es ist schon erstaunlich, daß ein eher unbeholfen wirkendes Tier in einem täglich austrocknenden Moospolster, zusammen mit einer großen Anzahl an recht vitalen Konkurrenten überleben und sich fortpflanzen kann.

Ein Blick in die moderne Bestimmungsliteratur bestätigt die Vermutung, daß die hier gezeigten Individuen aller Wahrscheinlichkeit nach der erstmals von Richters beschriebenen, inzwischen als  Cornechiniscus cornutus   bezeichneten Art zuzuordnen sind. Die sehr ähnliche, ebenfalls gehörnte Art  Cornechiniscus lobatus   scheidet jedenfalls aus, weil den hier vorliegenden Tieren das für  Cornechiniscus lobatus   charakteristische Rückenlätzchen ("lobatus") fehlt.

Im nächsten Journal (September 2002) mit dem Arbeitstitel ... auf der Suche nach der Seele von   Cornechiniscus cornutus  gibt es weitere Charakterportraits und Videoclips für alle Bärtierchenfreunde. Bleiben Sie dran!


Literatur:

Ferdinand Richters: Demonstration einiger Tardigraden und Copepoden.
Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, 1906, S. 269.

Ferdinand Richters: Zwei neue Echiniscus-Arten. Zoologischer Anzeiger 31 (1907) 197-202.

Walter Maucci (Hrsg.): Tardigrada. S. 165-167. Bologna 1986.

Hieronym Dastych: The Tardigrada of Poland. S. 58-59. Warszawa 1988.


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© Text und Fotos von  Martin Mach