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[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]



"Size matters!" - auf dem Weg zum Locus typicus von Batillipes mirus (II)

Wir Bundesbürger reisen gerne sehr weit, sehr schnell und sehr preiswert. Sicherlich unterstützen wir auf diese Weise ursächlich verknüpfte Berufszweige wie den des Kerosinhändlers, Tourismus-Rechtsanwaltes, Lösegeld-Emissärs und, wenn es ganz schlimm kommt, des Überführungshelfers oder Krisenpsychologen.

Wir wollen hier aber nicht über tragische Schicksale spotten, sondern lediglich darauf hinweisen, daß man beileibe kein bornierter Hinterwäldler sein muß, um ab und zu auch mal eine Reise innerhalb der eigenen Landesgrenzen in Erwägung zu ziehen. Noch dazu weil unser Land, und im speziellen die Kieler Föhrde, quasi das Mekka und Jerusalem der maritimen Tardigradenforschung sind.

Eingepackt haben wir: das  Kleine Stereomikroskop  für die Reise, Plastik-Petrischalen, eine Pipette, eine leere Plastikflasche und die mittlerweile sehr begehrten, wasserdichten Filmdosen aus der Analogzeit. Zur einfachen und anschaulichen Dokumentation des Fundortes sind auch noch eine Digitalkamera und ein GPS-Gerät mit im Gepäck.


[ Kieler Föhrde ]

Letztes Wegstück unserer Batillipes mirus-Expedition: Start im Zentrum von Kiel, quasi an der Grenze zwischen Stadt und Meer. Ab hier haben die Strandwanderer und das Meer Vorfahrt!

Startpunkt zum letzten Wegstück unserer Expedition ist die Bushaltestelle nordwestlich des Kieler Hauptbahnhofs. Dort hält der Bus 501 (Richtung Strande) und wir steigen ein. Wo wir hinwollen? Eigentlich wissen wir es nicht so ganz genau, jedoch kennen wir einige der Haltestellen des "501" aus der Tardigradenliteratur: Ernst Marcus nennt in seinem großartigen Artikel über die maritimen Tardigraden gleich drei Fundorte, die in direkter Nähe der Linie 501 liegen, bzw. sogar Haltestellen sind: Friedrichsort, Schilksee und Strande.

Um die Mitreisenden bei Laune zu halten, weisen wir beim Überqueren der großen Kanalbrücke auf den Nord-Ostsee-Kanal und seine Schleusen hin:


[ Kieler Föhrde ]

Blick von der großen Brücke, über die der Bus 501 fährt: Mündung des Nord-Ostsee-Kanals in die Kieler Föhrde.

Nach einer knappen dreiviertel Stunde erreichen wir die Endstation Strande und marschieren auf dem komfortablen Fußweg am Föhrde-Ufer entlang weiter in Richtung Norden. Wir sehen kleine Sandstrände und farbenfrohe Strandkörbe. Von den Expeditionsstrapazen zermürbte Mitreisende können hier dank Matjes, äußerst nahrhaften Bratkartoffeln und individuell abgestimmten, reichlich vorrätigen Getränken ein letztes Mal neue Kräfte aufbauen um sich gegen die, ab hier zu befürchtenden Schrecken der freien Natur bestmöglich zu wappnen.


[ Kieler Föhrde ]

Kleiner Sandstrand und Strandkörbe an der Nordseite von Strande.


Am Ufer gegenüber zeichnet sich im Dunst das Laboe-Marine-Denkmal ab:


[ Kieler Föhrde ]

Blick über die Kieler Föhrde, etwas nördlich von Strande, auf das Marine-Denkmal von Laboe.

Allmählich - auch der seniorenfreundlich ausgebaute Fußweg kann es nicht verhindern - verstärken sich die Einflüsse der Natur und des Meeres. Wir kommen an steinigen Buchten vorbei, finden kleine Seesterne und Krebspanzer mit ihrer innen wunderbar himmlisch-blau strahlenden Farbe. Natürlich gibt es am echten Meer - im Gegensatz zu gewissen kommerziellen Kunstwelten - auch leicht anrüchige Algen und gelegentlich einen toten Fisch.


[ Kieler Föhrde ]

Das Meer wird nun sehr präsent - selbst in der Brutalität noch ästhetisch.

Wir nehmen Sandproben vom Uferbereich, befüllen unsere Filmdosen jeweils etwa 3 cm bis 4 cm hoch mit nassem Sand und überschichten mit mindestens 1 cm hoch Wasser. Achtung: keine potentiell verwesenden größeren Tiere und auch keine Algen einpacken! Und dann: Klips und zu. Ab jetzt dürfen wir allerdings nicht vergessen, auf moderate Temperaturen (max. 20°C) zu achten, sonst geht etwaigen Bärtierchen in der Filmdose schnell die Luft aus.

Für einen gelegentlichen Wasserwechsel in meerfremden Gegenden nehmen wir außerdem in der oben erwähnten Plastikflasche noch eine größere Menge sauberes Fundortwasser mit.

Die beiden Fotos unten zeigen die Situation im Umfeld unserer Probe II, die wir in den folgenden Journalen genauer unter die Lupe nehmen werden. Die genaue Position haben wir für die werten Leserinnen und Leser des Bärtierchen-Journals per GPS bestimmt. Das ist schon eine feine Sache: Hinterher kann jede/r, der die Koordinaten hat, im Internet bei Google Maps die Fundstelle einsehen.


[ Kieler Föhrde ]

Entnahmeort der Probe II bei  N54 26.965 E010 11.653
knapp 2 km nördlich der Endstation des Busses 501, Station "Strande".


Um das Umfeld der Probe II im Luftbild zu studieren, gehen Sie einfach vor wie folgt:

-- Rufen Sie Google Maps auf (in Google den Suchbegriff "Maps" eingeben, erstem Link folgen)
-- Dort im Suchfenster Mit "copy ... paste" die Koordinaten der Bildunterschrift eingeben

... und schon sind Sie zumindest virtuell dort, am Bülker Weg und werden die auf den Fotos sichtbaren Strukturen im geographischen Kontext wiedererkennen.

[ Kieler Föhrde ]

Entnahmeort der Probe II bei  N54 26.965 E010 11.653, Detail


Zur Erinnerung: Wir sind auf der Suche nach dem legendären Urvater aller Batillipes-Arten: Batillipes mirus, zu Deutsch "Schaufelfuß, wunderbarer", den der Entdecker Ferdinand Richters wie folgt ablichtete und publizierte:

[ Batillipes Kieler Föhrde ]

Maritimes Bärtierchen Batillipes mirus vom Stoller Grund an der Kieler Föhrde. Originalaufnahme von Prof. Ferdinand Richters. Die Saugfüße sind ein Charakteristikum des Genus Batillipes. Artmerkmal von Batillipes mirus ist unter anderem der auch auf dem Foto sichtbare, spitze Schwanzfortsatz (auf Position 3 Uhr im Foto). Ferdinand Richters hatte leider nur mit Formalin fixierte Bärtierchen zur Verfügung. Die gezeigte Aufnahme war deshalb sicherlich nicht einfach anzufertigen und mußte, wie erkennbar ist, zur Verdeutlichung der Konturen noch nachretuschiert werden. Trotz allem "Satz und Sieg" für Richters.



Gefunden haben wir vor Ort zunächst nichts, trotz unseres schönen Reise-Stereomikroskopes. Aber zuhause   ...   mehr darüber im nächsten Journal.


Literatur

Ernst Marcus: Zur Anatomie und Ökologie mariner Tardigraden. Zoologische Jahrbücher, Systematik, Bd. 53 (1927) S. 487 - 558.
[Anmerkung: nach wie vor die ultimative Literaturstelle über Batillipes und Echiniscoides. Leider nicht online, es lohnt sich aber, diesen wunderbaren Artikel anderweitig, z.B. über den Lieferdienst SUBITO zu bestellen ].

Ferdinand Richters: Tardigraden-Studien.
In: 40. Bericht der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft,
II. Teil: Wissenschaftliche Mitteilungen. S. 28 - 48 und 2 Tafeln. Frankfurt am Main 1909.
[Anmerkung: enthält die erste (!) Mikrofotografie eines Batillipes-Bärtierchens]


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© Text und Fotos von  Martin Mach