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Lupen für Fortgeschrittene (II)

Und weiter geht es - mit den immer noch coronazeitlichen Heimarbeiten. Im letzten Journal hatten wir gesehen, dass das milchig-trüb erscheinende Aussehen von Lupenoptiken Indiz für hochwertige, mit Kanadabalsam verkittete Linsen sein kann. Zum Schluss zeigten wir jedoch eine scheinbare Ausnahme. Hier ist sie nochmal, die laut Aufdruck asphärische und achromatische Lupe, deren Frontlinse im 365 nm UV-Licht so vertrauenerweckend fluoresziert:

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Abb. 1: Eine als "ACHROMATIC" und "ASPHERIC" gekennzeichnete Messlupe mit 10facher Vergrößerung. Blickfeld, mit etwas gutem Willen (und ohne Brille): 2,5 cm. Durchmesser und auch Höhe knapp 4,5 cm. Gewicht 36 g. Mediokre Bildqualität und knarzige Fokussierung.

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Abb. 2: Dieselbe Lupe bei Durchstrahlung mit UV-Licht von 365 nm Wellenlänge.

Wirklich traurig, dass diese Lupe bei der Betrachtung eines schwarzen Textes auf weißem Grund heftige Farbränder liefert, wie man sie sonst nur von Zylinderlinsen der einfachsten Sorte kennt. Die Erklärung ist im Grunde genommen trivial: Es liegt ein sehr simples Linsensystem aus Kunststoff vor. Man sieht es, wenn die Lupe zwischen zwei Polfiltern auf einem Leuchtpult liegt:


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Abb. 3: Die stark ausgeprägten Farberscheinungen zwischen gekreuzten Polfiltern sind ein Indiz für Kunststoff (mit typisch kleinräumig-lokal unterschiedlichem Brechungsindex).

Somit wird klar, dass die gerne gescholtenen chinesischen "Triplets" in der Welt des Etikettenschwindels keineswegs einzigartig sind. Wie man sieht, empfiehlt es sich, auch mal vor der eigenen Türe zu kehren und gelegentlich einen kritischen Blick auf die hierzulande im Binnenverhältnis gehandelten Produkte zu werfen. Im Unterschied zu einem chinesischen Ebay-Händler sollte ein deutscher Zwischenverdiener ja durchaus in der Lage sein, die Beschriftungen auf seinen Angeboten zu lesen und zu deuten. Einer dieser deutschen Händler versicherte uns übrigens, es sei ihm ziemlich egal, wie die Chinesen ihre Produkte genau herstellten!


Kunststofflinsen werden gerne als "hochwertig", "asphärisch", und wie man sieht, gelegentlich sogar als "achromatisch" beworben. Und, völlig klar, eine Kunststofflinse kann theoretisch auch gut sein. Zu denken geben sollte uns allerdings die Tatsache, dass die meisten teuren optischen Geräte nach wie vor ausschließlich Glaslinsen enthalten. Eine Kunststofflinse kann in Sekundenschnelle aus thermoplastischem Grundmaterial hergestellt werden, wobei der verflüssigte Kunststoff unter hohem Druck in eine Gussform gepresst wird ("Druckguss"). Das kann gutgehen, muss aber nicht gutgehen:


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Abb. 4: Seitlicher Blick auf eine besonders lieblos gefertigte Lupen-Kunststofflinse. Man erkennt die mangelhafte, wellige Grobgeometrie der Linse, aber auch andere pikante Effekte, wie kleine Gruben an der Oberfläche und, im linken Bereich der Linse, spritzerartige Strukturen, die an ein Silvester-Feuerwerk erinnern. Diese werden bei der industriellen Fehleranalyse üblicherweise Wasserresten im Rohmaterial zugeschrieben: Im Ausgangsmaterial enthaltene Wasserspuren müssen bei den eingesetzen Gusstemperaturen von weit über 100°C zwangsläufig ziemlich dynamisch verdampfen, was dann eben zu einem nicht beabsichtigten Spritzmuster im Endprodukt führt.

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Abb. 5: Blick auf die Oberseite einer anderen, ebenfalls zu Unrecht als "achromatisch" bezeichneten 8x Standlupe ("No name"-Produkt, mit Werbeaufdruck, den wir hier dezenterweise verschweigen). Die gezeigte Standlupe hat, nebenbei bemerkt, nicht einmal eine Fokussiermöglichkeit. In der Praxis ist es deshalb reiner Zufall, ob ein Nutzer dieser Standlupe (mit erfahrungsgemäß individuell unterschiedlichem Sehvermögen) nach dem Aufsetzen auf die Objektoberfläche ein scharfes Bild erhält. Dieses Problem zeigt sich besonders bei Standlupen mit höheren Vergrößerungen und weist schon deutlich Richtung "fabrikneues Müllprodukt". Auch sind hier bereits im normalen Weißlicht heftige Farbeffekte zu verzeichen. Zusätzliche Hinweise auf das Vorliegen eines minderwertigen Produkts sind ausgesprochen grattlerhafte Montagespuren, die man treffend als schmelzende Bastler-Schlamperei charakterisieren muss. Man beachte auch die erkennbar hohe Anfälligkeit für Kratzer, sogar auf den zurückgesetzten, im Grunde genommen nicht besonders gefährdeten Linsen-Oberflächenbereichen.

Wohl einziger Vorteil der hier gezeigten Kunststofflinsen ist, dass sie uns im polarisierten Licht interessante Hinweise auf ihre Herstellung offenbaren können. Die in der folgenden Abbildung gezeigte Agfa-Acrylglaslupe demonstriert die Vorteile der Kunststoff-Fertigung besonders eindrucksvoll: Linse und Fassung der Lupe können in einem Stück gegossen werden, was natürlich die Arbeitsschritte der Linseneinpassung und Linsenbefestigung in der jeweiligen Fassung, und somit Kosten erspart:


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Abb. 6: "Combi"-Einschlaglupe von AGFA (ja, das war eine Firma, die mal Kameras hergestellt hat, 1A Diafilmentwicklungen besorgte usw.; die Älteren werden sich noch erinnern). Interessanterweise wurde hier eine relativ starke 6x Linse mit zwei weiteren Linsen flankiert, die zusammen als "3X" firmieren und erst in Kombination mit der inneren 6x Linse die Maximalvergrößerung von 9x ergeben. Gehäuselänge knapp 6 cm, Gewicht 25 g. Insofern eine durchaus interessante, originelle Konstruktion. Sie richtet sich natürlich eher an die Freunde interessanten Designs, weil die transparenten Seitenwände im Hinblick auf störendes Seitenlicht vielleicht nicht unbedingt optimal sein müssen. Es soll ja Leute geben, die schwarze Optik-Umhüllungen für günstiger halten, warum auch immer ... Designspaß-Verderber?
Die Spötter könnten natürlich noch nachhaken und argumentieren, dass 6 cm Gehäuselänge zum Schutz eines Linsensystems von gerade mal 2 cm Durchmesser nicht viel Sinn ergäbe! Haben da womöglich die vermeintlichen Angeber von Design und Vertrieb wieder mal nicht genügend mit den firmeneigenen "Eierköpfen", den Ingenieuren und Optikspezialisten gesprochen?

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Abb. 7: Polarisierter Lichtblick durch das, aus den zwei schwachen Linsen gebildete Optik-Teilsystem der Agfa-Lupe. Der Kunstharz-Einguss verrät sich in Position 3 Uhr. Vergleichsweise gut gelungener Acrylglas-Druckguss mit erfreulich wenig Farbabstufungen in den Linsen, Herstellung offensichtlich in einem einzigen Arbeitsschritt, ohne Extra-Montage der Linse. Insofern ist die transparente Linsenfassung fertigungsclever, aber leider auch maximal streulichtanfällig.

Nach derart verstörenden Lupenproblemchen sei zum seelischen Ausgleich noch eine der alten "Ernst Leitz" 10x-Lupen gezeigt, deren Gravur lediglich die Vergrößerung vermeldet, das selbstverständlich mit enthaltene, verkittete achromatische Linsensystem jedoch bescheiden verschweigt:


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Abb. 8: Leitz 10fach Lupe, wohl aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Hochwertiges verkittetes Linsensystem, deshalb farbreine Bildgebung. Man beachte das sich hier abzeichnende, edle Understatement: Wo weder "achromatisch", noch "aplanatisch" draufsteht, kann Selbiges trotzdem durchaus enthalten sein!

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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach