[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]


Exkurs: Das mikroskopische Sehen im Licht der Erkenntnisphilosophie (I)

Nach diesem, etwas hochgestochen klingenden Titel wollen wir sofort in die mikroskopische Praxis eintauchen: Abb. 1 zeigt ein Bärtierchengelege mit einem einzelnen Ei. Beim zweiten Blick auf das Foto könnte - durchaus berechtigt - der Verdacht aufkommen, dass hier jemand nachträglich am Computer eine blaue Umrisslinie eingezeichnet haben dürfte. Dies ist aber - Hand auf's Herz - nicht der Fall: Die Kamera registrierte die blaue Linie wie im Bild gezeigt. Beim Blick durch das Mikroskop gesehen hatten wir sie jedoch nicht. Gemäß unserem Selbstverständnis als eher nüchterne Mikroskopiker neigen wir dazu, hier nicht gleich paranormale Phänomene zu vermuten. Andererseits wollen und können wir die Angelegenheit nicht einfach unkommentiert auf sich beruhen lassen.


[  ]

Abb. 1: Detail der Cuticula eines Bärtierchens mit einem einzelnen Ei. Der Durchmesser des Eies beträgt etwa 45 µm. Die betreffende Moosprobe stammt von einem Spierenstrauch, wurde uns von einem wohlmeinenden Sympathisanten zur Verfügung gestellt.

Gleich vorweg sei verraten, dass unsere Folgeuntersuchungen gegen ein mikroskopisches Artefakt sprechen (die technische Begründung folgt im Januar-Journal). Deshalb möchten wir das bizarre Bild als Leitmotiv für einen kleinen, erkenntnistheoretischen Exkurs nutzen. Dieser betrifft im Grunde genommen den Einsatz jeglichen optischen Geräts, nicht zuletzt aber auch den der modernen Digitalkameras am Mikroskop.

Ein, leider dieses Jahr verstorbener Grandseigneur der Münchner Amateurmikroskopie prägte vor etwa zwei Jahrzehnten folgenden Merksatz:

"Alles was man am Mikroskop sehen kann, kann man auch fotografieren!"

Diese Aussage ist nun allerdings im Licht der damaligen Fototechnik am Mikroskop zu sehen, als die Mikroskopieamateure noch mit verhältnismäßig schwachen Fototechnologien, insbesondere kontrastarmen, niedrig auflösenden, ja teils sogar fast schon halluzinogen farbverfremdenden Digitalkameras kämpften. Damals war es noch eine Kunst, das Gesehene auch nur halbwegs brauchbar digitalbildlich festzuzurren. Das obige Zitat ist somit primär als Ermutigung und Ermunterung der vielen tapferen Amateure zu interpretieren, welche sämtliche industriellen Entwicklungsschritte der Digitalfotografie quasi im Verzweiflungsgleichschritt mit durchleiden mussten.

Heute könnte man, unserer Meinung nach, das kluge Statement der Jahrtausendwende um eine neu hinzugekommene Weisheit ergänzen, etwa so:

"Eine Kamera nimmt so manches auf, was wir Menschen nicht sehen können!"

Zur Untermauerung dieser bewusst allgemein gehaltenen Aussage wollen wir aus der Bärtierchenwelt heraustreten und ein anderes, ebenfalls wirbelloses, jedoch sehr viel größeres Lebewesen, nämlich den Adria-Oktopus, heranziehen (Abb. 2).



[  ]

Abb. 2: GIF-Animation aus zwei Teilbildern - ein Octopus vulgaris, dieses Jahr im Meer vor der Küste Dalmatiens fotografiert. Das erste, diffus grünstichige Teilbild zeigt den Oktopus, wie wir ihn beim Blick nach unten, ins nicht allzu helle Wasser wahrnahmen. Die auf Automatik gestellte Kamera dokumentierte den visuellen Eindruck zutreffend. Was will man auch schon erwarten, wenn die Lichtverhältnisse nicht optimal sind? Das zweite Teilbild des GIF illustriert, was nachträgliche Computer-Bildverarbeitung aus derartigem Rohmaterial herausholen kann.

Hierbei ergibt sich ein erkenntnistheoretisches Paradox: Bildet nicht doch die grünstichig verfärbte Uraufnahme das Szenario maximal realitätsgetreu ab, während das Ergebnis der Bildverarbeitung sehr viel weniger ehrlich ist, kosmetisch geschönt wie das Konterfei eines Cover-Girls? Unser Eindruck vor Ort ist ja maximal authentisch, aus Perspektive eines Schnorchlers, mit leicht beschlagener Taucherbrille, im natürlichen, deshalb auch nicht allzu hellen, deutlich grünstichigen Licht.

Die Kamera machte sich das Leben hingegen sehr viel leichter, richtete einfach ihren Blitz auf den Oktopus. Dank der zusätzlichen Lichtfülle konnte sie sehr viel mehr Details abspeichern. Diese Details kamen dann hinterher, mittels kontrastverstärkender Bildverarbeitung wieder zum Vorschein.

Beide Betrachtungsweisen, nennen wir sie mal A und B, haben somit eine gewisse Berechtigung. Und sie liegen beide in einer Hinsicht falsch: Suggerieren sie doch dem Betrachter, dass der Oktopus in sanft ansteigender Hanglage, Arme nach unten, fotografiert worden sei! Dies war jedoch nicht der Fall - der Oktopus lag nämlich flach ausgestreckt auf einem horizontalen Kiesboden. Die vermeintliche Schräglage resultiert lediglich aus einer sehr ungewöhnlichen fotografischen Haltung, wie sie für fotografierende Schnorchler typisch ist - Fokus nach schräg unten. Das Hirn des Bildbetrachters münzt die schräge Kamerahaltung hinterher eigenmächtig in einen schrägen Untergrund um!

Die nahe liegende Auflösung des nur scheinbaren Dilemmas zwischen Sichtweise A und Sichtweise B liegt in einer Summenbetrachtung, nennen wir diese einfach X (und nein, Elon Musk ist hier ausnahmsweise mal nicht gemeint): A und B stehen für partielle und spezielle Betrachtungsweisen in ein- und demselben Szenario. Wir könnten insofern ohne Weiteres eine zusätzliche Sichtweise C (Betrachtung des Oktopus im UV-Licht), eine Sichtweise D (Betrachtung des Oktopus in anderer Gemütslage, mit dementsprechend anderer Farbigkeit) und weitere hinzufügen. Teilwahrheiten einer Summenwahrheit.

Auch am Mikroskop sollten wir uns der Tatsache bewusst sein, dass wir der Natur mit sehr speziellen, letztendlich unnatürlichen Betrachtungsweisen zu Leibe rücken: Krasses Gegenlicht ("Hellfeldbeleuchtung"), im Extremfall sogar polarisiertes Licht, Phasenkontrastbeleuchtung, Differentialinterferenzkontrast, unnatürlich flache Objektvolumina etc. pp.
Damit soll nun keineswegs gesagt sein, dass die genannten Methoden und ihre Ergebnisse falsch sein müssten - sie illustrieren jedoch allesamt unterschiedliche Facetten ein- und desselben Objekts. Im Hinblick auf Abb. 1 könnten wir insofern die Fragestellung wie folgt formulieren: Wie viel Blau bzw. wieviel Blaues Ei liegt hier vor? Spiegelt uns die blaue Linie womöglich nur etwas vor, ist sie lediglich eine "kontrollierte Halluzination" im Sinne des Hirnforschers Anil Seth?

Im nächsten Journal werden wir die blaue Linie in diesem Sinne eingehender betrachten.



Bibliografie
Anil Seth: Being You - A New Science of Consciousness. London 2021.
ISBN-13: 978-1524742874


Technische Anmerkungen

Aufnahmetechnik beim Bärtierchen-Gelege (Abb. 1)
Kleine, mobile Mikroskopausrüstung auf Basis eines Hertel&Reuss CN-fl Schrägtubus-Mono-Mikroskopes, etwas aufgehübscht mit einem Leitz 10x GF Periplan Okular. Als Lichtquelle eine "Jansjö"-LED-Lampe. Fotografie durch das proprietäre Hertel&Reuss 40x/N.A. 0,65 Objektiv. Kamera: Sony Nex-5N, nur fallweise mit Hilfe eines IHAGEE Mikroskop-Adapters (vgl. Journal von Juli 2019) am Schrägtubus angebracht.

Aufnahmetechnik beim Oktopus (Abb. 2)
Das Foto wurde beim Schnorcheln, aus dem Handgelenk, mit nach unten gerichteter Kamera aufgenommen. Zum Einsatz kam eine ultrakompakte Sony DSC-T9 (Baujahr 2005, kein Witz!) im zugehörigen Unterwassergehäuse Sony SPK-THC. Der Vorteil dieser Kombination liegt in ihrer Schnelligkeit: im Kameramenü vordefiniertes Sportprogramm mit kurzer Verschlusszeit, Blitz immer eingeschaltet; fix voreinstellbare Entfernung (0,5 m oder 1 m) mit ausreichender Tiefenschärfe, deshalb extrem geringe Auslöseverzögerung und kein Verwackeln, exzellentes Zusammenspiel mit dem eingebauten Blitz.


Hauptseite



© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach