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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #4: Mesobiotus harmsworthi

Mesobiotus harmsworthi (Murray, 1907) wurde vom schottischen Biologen und Naturforscher James Murray erstmals dokumentiert. Dieser unermüdliche Wissenschaftler beschrieb stolze 66 Tardigradenarten - eine für seine Zeit sehr beachtenswerte Leistung! Leider fand Murray während der kanadischen Arktis-Expedition einen tragischen Tod: Nachdem das Expeditionsschiff "Karluk" 1914 vom Eis zerdrückt worden war, scheiterte er beim Versuch, sich auf dem Weg über die feste Eisdecke zu retten. Er wurde nie wieder gesehen, gilt seitdem als spurlos vermisst, mit ungeklärtem Sterbedatum.

Der Name Mesobiotus harmsworthi bezieht sich auf die erste Fundstelle am westlichsten Punkt von Franz-Josef-Land (im arktischen Eismeer), dem Kap Mary Harmsworth. In der Literatur findet sich noch häufig der ältere Name Macrobiotus harmsworthi. Erst 2016 wurde die Gruppe Mesobiotus errichtet - aus Macrobiotus harmsworthi entstand somit Mesobiotus harmsworthi. Die Vorsilbe "Meso" (= mittig) soll ausdrücken, dass die neue Gattung im Macrobiotus-Umweld eine Art Zwischenstellung einnimmt. Zur Bekräftigung dieser Argumentation wurden insbesondere sehr kleine Merkmale der Mundröhre herangezogen, die lichtmikroskopisch leider nur schwer auflösbar sind.
Die Mesobiotus harmsworthi-Gruppe umfasst zudem eine Reihe potentieller Unterarten, die ebenfalls nicht leicht zu unterscheiden sind. Wenn man dieser komplizierten Diskussion folgen will, hilft nur der Blick in die einschlägige Fachliteratur.

Letztendlich lässt sich die jeweilige Bärtierchenart sowieso oft nur dann sicher bestimmen, wenn neben den erwachsenen Tieren auch eindeutig zugehörige Eier gefunden und untersucht werden können.

Heutzutage setzen die Tardigradologen (Bärtierchenforscher) allerdings regelmäßig noch ein zusätzliches diagnostisches Mittel ein: Biochemisch ermittelte, genetische Sequenzen ergänzen die althergebrachten anatomischen Merkmale, ermöglichen quasi einen zweiten Blickwinkel auf das Artenspektrum. Dank dieser Betrachtungsweise ergeben sich zahlenmäßig untermauerte Verwandtschaftsgrade, die eine bessere Absicherung der jeweiligen Artdefinitionen erlauben.

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Mesobiotus harmsworthi hat eine glatte Kutikula. Der Körper erscheint im Auflicht (etwa bei niedriger Vergrößerung im Präpariermikroskop) weiß, im Durchlicht transparent bis gelblich (Abb. 1).


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Abb. 1: Gesamtansicht eines Mesobiotus harmsworthi-Weibchens im mikroskopischen Durchlicht. Körperlänge knapp 0,4 mm (typisch sind 0,3 bis maximal 0,5 mm). Auf dem Foto ist der orange erscheinende Verdauungstrakt gut zu erkennen. Dieser wird im Bild an seiner Rückseite von drei dunkel erscheinenden Eiern überdeckt.

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Abb. 2: Gesamtansicht eines Mesobiotus harmsworthi-Dauerpräparates im Phasenkontrast. Durch die Präparation leidet ein Teil der inneren Anatomie, jedoch treten die Merkmale des Schlundkopfes und der Krallen im Phasenkontrast deutlicher hervor als in Abb. 1. Das Phasenkontrastverfahren liefert allerdings lediglich Grauabstufungen, keine naturgetreue Farbe.

Aus philosophischer und politischer Perspektive sei daran erinnert, dass weibliche Selbstbestimmung bei den Tardigraden nicht einmal ansatzweise existiert: Ovogenese und Eiablage laufen als zwangsläufiger Automatismus ab.

Mesobiotus harmsworthi verfügt über zwei große Augen, die sehr weit vorne am Kopf liegen (Abb. 3). Dieses, bei den Bärtierchen ungewöhnliche Artmerkmal ist bereits ab etwa 30facher Vergrößerung zu erkennen, verrät deshalb schon in einer Petrischale die mutmaßliche Präsenz von Mesobiotus harmsworthi.

Im Schlundkopf befinden sich Ketten aus drei rundlich bis länglichen Makro-, sowie einem relativ großem Mikroplakoid. Die Makroplakoide haben in etwa gleiche Länge. An den Schlundkopf schließt eine schmale Speiseröhre an, die in den Mitteldarm (Magen) mündet. In Abb. 3 ebenfalls zu erkennen sind die zwei großen, sackförmigen Speicheldrüsen seitlich und unterhalb des Schlundkopfs.


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Abb. 3: Vorderleib des Mesobiotus harmsworthi im mikroskopischen Durchlicht. Lebendaufnahme. Beim gezielten Fokussieren auf die Augenflecke wäre zusätzlich erkennbar, dass diese aus vielen kleinen, kugelförmig zusammengeballten Pigmentkörnern bestehen.

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Abb. 4: Vorderleib des Mesobiotus harmsworthi im Phasenkontrast (Dauerpräparat).

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Abb. 5: Mesobiotus harmsworthi-Vorderleib. Ebenfalls ein Dauerpräparat, jedoch bei stärkerer Vergrößerung im mikroskopischen Durchlicht aufgenommen (Schräglicht durch dezentrierten Kondensor).

Die Klauen (vgl. Abb. 6) lassen sich als "hufelandi-Typ" klassifizieren. Bei diesem Typus sind Haupt- und Nebenast bis auf etwa halbe Klauenhöhe miteinander verbunden. Der Hauptast ist nur unwesentlich länger als der Nebenast. Die Krallen weisen an der Basis kleine Lunulen auf. Dies sind kutikulare Verdickungen, welche für eine kraftschlüssige Verbindung mit dem Körpervolumen sorgen (Tardigraden haben kein stabilisierendes Knochenskelett!). Mehr zu diesem Thema folgt im nächsten Journal, bei der Vorstellung von Macrobiotus hufelandi.


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Abb. 6: Hinterleib des Mesobiotus harmsworthi. Besonders am Klauenpaar in Position 12 Uhr ist das Macrobiotus- und Mesobiotus-typische, hoch symmetrische Krallenmuster gut zu erkennen.

Die Eier werden einzeln im Wohnsubstrat abgelegt, erscheinen im Auflicht weiß und weisen konische Fortsätze auf, ca. 10-20 µm hoch. Das Exemplar in Abb. 7 ist bereits weit entwickelt, mit deutlich erkennbarer Schlundröhre, Plakoiden und Stiletten. Das Schlüpfen steht somit direkt bevor. Die Fortsätze zeigen eine netzförmige Struktur, die sich nur bei höchster mikroskopischer Detailauflösung (und etwa 1000facher Vergrößerung) genauer darstellen lässt. Die Arbeit von Kaczmarek [2018] (siehe Literaturverzeichnis) enthält weitere, detailreichere Abbildungen, welche die Fortsätze sowohl im Phasenkontrast als auch im elektronenmikroskopischen Bild zeigen.


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Abb. 7: Ei des Mesobiotus harmsworthi. Links unten im Ei, unterhalb der Mundröhre, ist die artcharakterische (hier rechte) Kette aus drei Makroplakoiden deutlich zu sehen (während die linke teilweise verdeckt ist). Durch das Schlundkopfmuster im reifen Zustand gelingt somit der Nachweis, dass dieses Ei tatsächlich von Mesobiotus harmsworthi abgelegt wurde.

Leider ist es in der Praxis nicht ganz einfach, einzeln frei im Wasser abgelegte Eier zu finden. Abb. 8 mag zur Veranschaulichung dienen, dass man Zeit und Geduld investieren muss, um die Eier in den Petrischalen zu entdecken:


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Abb. 8: Ei des Mesobiotus harmsworthi in der Petrischale - nicht ganz einfach zu finden. Das hier im Bildzentrum gerade noch erkennbare Ei hat einen Durchmesser von 100 µm (0,1 mm).

Mesobiotus harmsworthi ist eine in Deutschland weit verbreitete Art, die vorzugsweise auf Kalkgestein lebt. Sie wurde bereits in der Mehrzahl der deutschen Bundesländer nachgewiesen, jedoch bislang noch nicht in Bayern, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und dem Saarland. Falls Sie nun dort erstmals fündig werden sollten, bittet der Mitautor dieser Bestimmungsserie, Dr. Rolf Schuster (r.b.schuster@web.de) um Mitteilung.



Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !

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Wikipedia-Eintrag zu James Murray.

Hieronim Dastych, The Tardigrada of Poland. Monografie Fauny Polski 16, 1-255. 1988.

Hartmut Greven, Die Bärtierchen. Wittenberg Lutherstadt 1980.

Lukasz Kaczmarek et al., An integrative redescription of the nominal taxon for the Mesobiotus harmsworthi group (Tardigrada: Macrobiotidae) leads to descriptions of two new Mesobiotus species from Arctic. PLOS ONE October 2ß18 13(10):e0204756.
Direktlink

Ian M. Kinchin, The Biology of Tardigrades. London 1994.




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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach