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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #16: Batillipes sp.

Ausnahmsweise wollen wir hier mit Batillipes sp. nicht lediglich eine bestimmte Art, sondern ein Genus präsentieren (das "sp." steht für eine beliebige Spezies innerhalb des Genus). Angemerkt sei jedoch, dass genauso gut Batillipes mirus, die am längsten bekannte Batillipes-Art, als Primus inter pares im Titel stehen könnte. Mit der Entdeckung dieses bizarren Wesens im Jahr 1909 ebnete Prof. Ferdinand Richters den vormals holprigen Weg zu vielen neuen, marinen Tardigraden.


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Abb. 1: Batillipes sp. in der Gesamtansicht. Körperlänge knapp 200 µm. Acht Beine mit jeweils sechs löffelförmig auslaufenden Zehen. Statt des von anderen Tardigraden gewohnten Augenpigments finden sich in gleicher Position sehr unscheinbare, farblose, runde Fetttröpfchen, die man - je nach Laune - mit Augen in Verbindung bringen kann oder auch nicht. Sehr gut zu erkennen sind jedenfalls gerade Stilette und - taxonomisch wichtig - auch die quer an der Mundröhre ansetzenden Stilettträger.

Die Spannweite der in der Fachlitaratur spezifizierten Körperlänge von Batillipes mirus erstaunt: Morgan und King äußern sich dazu wie folgt:
"varies in length between 100-720µm ..." [Morgan & King 1976].
Aber: Wer von Euch, werte Leserinnen und Leser, würde beispielsweise im Falle des Homo sapiens eine analoge Körpergrößenangabe akzeptieren wie:
"variiertzwischen 1 Meter und 7,20 Meter"?

Jedenfalls konnten wir den, wohl auf Ernst Marcus zurückreichenden Maximalwert von stolzen 720 µm weder in Norddeutschland noch andernorts auf der Welt bestätigen. Es wäre jedoch ziemlich gewagt, dem Titan der deutschen Bärtierchenforschung, Ernst Marcus, womöglich posthum einen schnöden Messfehler zu unterstellen ...


Auf Abb. 1 sind reichlich kleinere Partikel zu sehen, die am Hinterkörper kleben. Zum besseren Verständnis sei deshalb angemerkt, dass Batillipes an jedem seiner acht Beine Klebstoffdrüsen trägt, die Klebstoff in Richtung auf die Zehenlappen einzuschießen vermögen. Ernst Marcus schildert dies so schön, dass wir ihn mit seinem Originaltext zitieren möchten: "Es besteht kein Zweifel, daß die Unterflächen der Schaufeln durch Sekret, das nur von den Extremitätendrüsen stammen kann, klebrig gehalten werden" [Marcus 1927, S. 528].
Leider bereitet genau diese Eigenschaft nicht nur dem Batillipes selbst, sondern auch dem Beobachter am Mikroskop erhebliche Schwierigkeiten: Batillipes leidet in der Isolation aus dem Sand, weil er sich in einer Welt von Klebefäden bewegt und sich von diesen nur durch Abstreifen zwischen den Sandkörnern befreien kann. Der Mikroskopiker steht zusätzlich vor dem Problem, dass Batillipes dank des Klebstoffs ohne weiteres an einem nassen Objektträger oder der Innenwand einer Glaspipette festhalten kann. In der Praxis kann er deshalb nur dann aus einer Sandprobe herauspipettiert werden, wenn er sich an einem Sandkorn festhält und zusammen mit diesem transportiert werden kann!


Abb. 2: Batillipes Bärtierchen, auf einem Sandkorn herumkletternd. In dieser Situation kann es samt Sandkorn portiert werden!

Abb. 3 zeigt den sensorischen Antennenwald am Kopf der Batillipes Bärtierchen. Die dort hervorstehenden, besonders interessanten "Clavae" unterstützen vermutlich die taktilen Reize der übrigen Sensoren durch stofflich-chemisch basierte Empfindungen.


[ Kopf von Batillipes ]

Abb. 3: Kopf eines Batillipes-Bärtierchens, von unten gesehen (bauchseitig). Dargestellt sind:
-- Position der Mundöffnung, nach unten weisend (o)
-- Cirrus A (A), lang, hier ein wenig verschwommen, andeutungsweise erkennbar
-- Mutmaßlicher Chemosensor "Clava" (c). Man beachte die innere Feinstruktur der Clava
-- die externen und internen Cirrus medialis-Paare (cb2 bzw. cb1), Nerven teils schön zu sehen
-- die beiden sehr kleinen, sekundären Clavae (pb)
-- der hier nur angedeutete Cirrus medianus (cr) auf der Rückseite des Bärtierchens
Stark vergrößert, Ölimmersion. Bildbreite knapp 50 µm.

Unter günstigen Bedingungen - wenn partikelfrei - sind bei den einzelnen Batillipesarten unterschiedlich ausgeprägte Schwanzfortsätze zu sehen, die für die Artbestimmung von entscheidender Bedeutung sind.


Abb. 4: Stachel am Hinterleib eines Batillipes mirus

Mit etwas Glück lassen sich in den Meersandproben auch abgestreifte Cuticulae finden, bei denen seitlich ansetzende Lappen und Stacheln einfacher zu erkennen sind als beim sandkornverklebten Tier:


Abb. 5: Abgeworfene Cuticula eines Batillipes Bärtierchens aus dem Meersand vor Elba. Man achte auf die typische, feine Punktierung der Oberfläche und die seitlich ansetzenden, lappenartigen Fortsätze. Aufnahme im Phasenkontrast.

Klassischer Fundort für Batillipes ist die Kieler Förde, wo man Batillipes ohne weiteres im oberen Spülsaum, auch vor den dortigen Strandkörben finden kann.


Abb. 6: Situation an der Kieler Förde mit typischem Sandstreifen zwischen Festland und Meer

Batillipes legt seine glasklar-transparenten Eier vorzugsweise einzeln und ohne schützende Hülle, frei zwischen Sandkörnern ab. Diese Eier sind deshalb furchtbar schwer zu finden!



Zur Namensgebung
Wir folgen gerne der von Ernst Marcus vorgenommenen Eindeutschung des Batillipes mirus als "Wunderbarer Schaufelfuß", sehen in diesem bizarren Namen einen weiteren Beweis für schieres Erstaunen, nicht nur beim Laien, sondern auch beim eher zur Nüchternheit tendierenden Forscher.



Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !


Lucien Cuénot (1932), Tardigrades, S. 29-30.

Hartmut Greven (1980), Die Bärtierchen.

Hartmut Greven (2018), From Johann August Ephraim Goeze to Ernst Marcus: A Ramble Through the History of Early Tardigrade Research (1773 until 1929).
In R. O. Schill (Ed.), Water Bears: The Biology of Tardigrades (pages 1-55). Springer, Cham.

Ernst Marcus (1927), Zur Anatomie und Ökologie mariner Tardigraden, in: Zool.Jahrb., Bd. 53, Syst., p. 487-558, Jena 1927.
[Anmerkung: Dieser Artikel enthält ausführliche und heute anscheinend weitgehend vergessene Details zu Echiniscoides sigismundi und Batillipes mirus!]

C.I. Morgan und P.E. King (1976), British Tardigrades. S. 47.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach