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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #6: Milnesium tardigradum

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Abb. 1: Gesamtansicht eines Milnesium tardigradum-Bärtierchens. Besonders markante, bereits bei niedriger Vergrößerung erkennbare Artmerkmale sind ein birnenförmiger Kaumagen ohne Plakoid-Einlagerungen sowie die sehr breite Mundröhre. Die typische maximale Körperlänge beträgt 600 bis 700 µm, im Extremfall wohl sogar mehr als 1000 µm!

Milnesium tardigradum wurde bereits 1840 vom französischen Zoologen und Agrologen Louis Doyère (1811-1863) beschrieben. Der Genusname Milnesium sollte an seinen Doktorvater Henri Milne-Edwards erinnern.
Die 144seitige Dissertation von Doyère gilt auch heute noch als wichtiger Meilenstein der Bärtierchenforschung [Greven 2018]. Ihr Detailreichtum in Text und Illustration erstaunt, besonders wenn man bedenkt, dass die damaligen Mikroskop-Optiken in handwerklicher Manier "erpröbelt" wurden und wirklich exzellente Geräte für Normalsterbliche unerschwinglich waren: Bis zur Markteinführung von Ernst Abbes Apochromat-Objektiven sollte ohnehin noch ein halbes Jahrhundert vergehen.



Die Milnesien bilden eine sehr klar umrissende Gruppe mit vielen einzigartigen, auch für Mikroskopie-Amateure gut erkennbaren Merkmalen. Sechs, bei der Lebendbeobachtung im Mikroskop als weich erkennbare Papillen umgeben die Mundröhre an ihrer vorderen Außenseite (Abb. 2):


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Abb. 2: Die Mundöffnung von Milnesium tardigradum ist von sechs symmetrisch angeordneten Papillen umgeben. Diese sind unter dem Mikroskop nur in der Schrägansicht plastisch zu erkennen. Unter typisch mikroskopischem Blickwinkel (von oben) meint man häufig lediglich zwei dieser Mundöffnungspapillen zu sehen - die übrigen verdecken sich gegenseitig oder liegen außerhalb der Schärfeebene.

Zusätzlich befinden sich etwas weiter hinten an der Schnauze noch zwei weitere Papillen (Abb. 3) - und nein, in diesem Fall handelt es sich nicht um das oben geschilderte Versteckspiel einer Sechsergruppe!
In Abb. 3 ist weiterhin erkennbar, dass die Mundröhre an ihrem vorderen inneren Ende halbkugelförmig abgeschottet werden kann. Diese Aufgabe übernehmen sechs extrem dünnwandige Lamellen, die sich hier nur durch ihr Zusammenwirken als hermetisch schließende Kuppel bemerkbar machen.


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Abb. 3: Der Vorderleib von Milnesium tardigradum, in der klassischen mikroskopischen Ansicht, von oben. Der bereits in Abb. 1 sichtbare, birnenförmige Schlundkopf ohne Makroplakoide erscheint auffällig groß und ist bei dem gezeigten Exemplar etwa 0,1 mm lang. Die von anderen Eutardigraden her gewohnten Plakoid-Einlagerungen im Schlundkopf fehlen. Immer vorhanden sind bei Milnesium jedoch die beiden großen, schwarzen Augenflecken. Die seitlich neben der sehr breiten Mundröhre angeordneten Stilette und Stilettfedern wirken vergleichsweise filigran, so als seien sie lediglich untergeordnete Statisten in einem für größere Aufgaben dimensionierten, mächtigen Fress-Apparat.

Im Inneren des Schlundkopfs offenbart sich eine besonders ausgeprägte, quer kontrahierende Muskulatur, welche schlagartig-mörderische Pumpwirkung entfalten kann. Man darf in diesem Fall, und völlig zu Recht, durchaus an die analoge Schnell-Schluckfähigkeit eines Zackenbarschs denken.

Während die freie Öffnung der Mundröhre bei anderen Eutardigraden sehr viel kleiner ist, finden wir bei Milnesium einen Röhrendurchmesser von bis zu 17 Mikrometern!

Die Verbindung von großem Pumpmagen und breiter Speiseröhre erklärt, warum Milnesium tardigradum innerhalb des Bärtierchen-Stammes schon rein visuell als Raubtier einzustufen ist. Zwar mag es durchaus vorkommen, dass beispielsweise größere Exemplare von Macrobiotus hufelandi mit ihren Stiletten nicht lediglich Algen, sondern auch Rädertierchen anstechen und aussaugen. Nur Milnesium tardigradum ist jedoch - dank dieser breiten Mundröhre und der eindrucksvollen Magenpumpe in der Lage, auch größere Kleinorganismen als Ganzes einzusaugen! Dies lässt sich durch den Blick auf den Mageninhalt eines ausgewachsenen Räubers belegen:



[ Milnesium-Bärtierchens ]

Abb. 4: Großes Milnesium-Bärtierchen von einer Isarbrücke in München. Körperlänge ca. 700 µm.

Der Weg der Nahrung von der Mundöffnung (links unten) in die kurze, breite Speiseröhre, durch den birnenförmigen Kaumagen, den extrem kurzen, schlauchförmigen Ösophagus in den großen Darmbereich (Verdauungsbereich) ist nachvollziehbar.


Zunächst betrachten wir eine Übersichtsaufnahme des Verdauungsbereichs, in der sich bereits einige, dort nicht zu erwartende, mutmaßlich hartschalige Strukturen abzeichnen:


[ Darminhalt eines Milnesium-Bärtierchens ]

Abb. 5: Der Darminhalt des in Abb. 4 gezeigten Milnesium Bärtierchen-Riesen bei höherer Vergrößerung. Links im Bild führt der Ösophagus-Schlauch Richtung Kaumagen. Die rot markierten Objekte signalisieren offensichtliche Fressbeute. Bildbreite ca. 400 µm.

Bei den beiden oben mit den roten Pfeilen gekennzeichneten, rundlichen Objekten handelt es sich mit Sicherheit um unverdauliche Reste von Rädertierchen. Die Form der hier vorliegenden Rädertierchen-Kaumägen ist sehr charakteristisch (vgl. Detailausschnitt unten, Abb. 5).

Darüber hinaus hat "unser" Milnesium-Bärtierchen quasi noch einen Kollegen aus dem gleichen Stamm gefressen, und zwar mit Haut und Haar (ovale Umrissmarkierung in Abb. 5)! Man erkennt die unverdaulichen Reste eines sehr, sehr kleinen Bärtierchens. In den höher aufgelösten Detailaufnahmen unten zu sehen sind dessen winzige Klauen (Abb. 6), seine Speiseröhre und seine ebenfalls winzigen Makroplakoide (Abb. 7). Gefressen wurde hier vermutlich ein junges Ramazzottius oberhaeuseri-Bärtierchen, welches wohl als Ganzes (!) durch die Mundröhre des Räubers eingesaugt wurde. Ramazzottius und Milnesium sind oft Nachbarn mit gemeinsamem Lebensraum.


[ Tardigraden: Darminhalt eines Milnesium-Bärtierchens ] [ Tardigraden: Darminhalt eines Milnesium-Bärtierchens ] [ Tardigraden: Darminhalt eines Milnesium-Bärtierchens ]

Abb. 5: Detail im Darm - Kaumagen eines Rädertierchens

Abb. 6: Detail im Darm - Klauen eines sehr kleinen Bärtierchens

Abb. 7: Detail im Darm - zugehörige Speiseröhre und Makroplakoide des sehr kleinen Bärtierchens


Die folgend abgebildeten Krallen von Milnesium werden in der Fachliteratur ausgesprochen sorgfältig, ja fast schon erschöpfend diskutiert [Michalczyk 2012].


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Abb. 8: Die Krallen am letzten Beinpaar eines Milnesium tardigradum sind nicht, wie bei anderen Arten partiell miteinander verwachsen, sondern vollständig getrennt, die Hauptäste der Außenkrallen jeweils sehr lang und fadenförmig dünn. Die knorrig wirkenden Innenkrallen zeigen eine verbreiterte Basis und tragen bis zu vier Spitzen.

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Abb. 9: Krallen am letzten Beinpaar eines besonders typischen Milnesium tardigradum. Fokus auf die Innenkrallen (d.h. die kleineren Krallen). Die nach außen zeigenden Innenkrallen lassen hier, wenn man sehr genau hinschaut, drei spitze Enden erkennen, die nach innen zeigenden Innenkrallen lediglich zwei dieser spitzen Enden.

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Abb. 10: Krallen an einem Vorderbein von Milnesium tardigradum. Der rote Pfeil markiert die dort charakteristische, breite Kutikularleiste.

Wenn sich ein schwangeres Bärtierchenweibchen häutet, bleiben in der alten Haut die sich weiter entwickelnden Eier zurück (Abb. 11). Ein solches Gelege kann unterschiedlich viele Eier haben - in Abb. 12 sehen wir fast so viele wie Millionäre in der Fußball-Nationalmannschaft.


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Abb. 11: Häutung eines Milnesium tardigradum mit gleichzeitiger Eiablage in die Cuticula.


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Abb. 12: Gelege eines Milnesium tardigradum mit 11 Eiern in einem frühen Entwicklungsstadium. Anfangs, während der ersten Zellteilungen erscheinen die Eier milchig trüb, erst gegen Ende der Reifung klärt sich ihr Inhalt auf und zeigt dann bereits die klassischen Merkmale der erwachsenen Tiere (Speiseröhre, Krallen, Stilette usw.).



Was bei Milnesium tardigradum noch als wichtig zu erwähnen wäre

(1) Die seriöse Erstbeschreibung und Namensvergabe für eine mikroskopische Art wie Milnesium tardigradum muss eine Reihe von Grundbedingungen erfüllen. Hierzu zählt - neben der Publikation mit allen beobachteten anatomischen Details - die Hinterlegung eines zugeordneten, als repräsentativ erachteten Dauerpräparats, das üblicherweise in einer staatlichen oder musealen Sammlung verwahrt wird. Dies ist der sogenannte "Holotyp" der Art.
Er dient als stofflich-materielle Standardreferenz, kann beispielsweise beim Vergleich mit Neufunden oder auch bei etwaigen Nachuntersuchungen mit verfeinerten Methoden zum Einsatz kommen.

Leider ist das Holotyp-Präparat von Milnesium tardigradum heute nicht mehr auffindbar. Deshalb erfolgte eine ersatzweise Beschreibung und Holotyp-Hinterlegung durch [Michalczyk 2012]. Diese basiert auf Milnesium tardigradum-Individuen aus Zeesen (einem Ortsteil der Stadt Königs Wusterhausen im Landkreis Dahme-Spreewald in Brandenburg).

(2) Eine weitere Besonderheit ist der im Gegensatz zu anderen Bärtierchenarten gut erkennbare Geschlechtsunterschied (Geschlechtsdimorphismus): Bei den männlichen Milnesium tardigradum-Individuen sind die Krallen an den beiden Vorderbeinen zu Haken umgewandelt, was wahrscheinlich der Paarung dient. Nach [Marcus 1936] kommt ein Männchen auf 25 Weibchen.

(3) Die ESA (European Space Agency) schoss 2007 eine Gruppe von Milnesium tardigradum-Bärtierchen ins All. In den einschlägigen Berichten wird leider manchmal zu erwähnen vergessen, dass diese Bärtierchen nicht lebensaktiv, sondern in ihrer sehr widerstandsfähigen Trockenform, als sogenannte "Tönnchen" reisten. Die Tönnchen wurden nach Menschen-Manier den extrem lebensfeindlichen Bedingungen des Weltalls ausgesetzt: Fast-Vakuum, Temperatur nahe am absoluten Nullpunkt und kosmische Strahlung. Drei der Tönnchen überstanden die Tortur und ließen sich - zurück auf der Erde - wieder zum Leben erwecken [Wikipedia].



Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !

Greven, Hartmut (2018), From Johann August Ephraim Goeze to Ernst Marcus: A Ramble Through the History of Early Tardigrade Research (1773 until 1929). In R. O. Schill (Ed.), Water Bears: The Biology of Tardigrades (pages 1-55). Springer, Cham.

Marcus, Ernst (1936), Tardigrada. 66. Lieferung in der Reihe Das Tierreich. Berlin und Leipzig. 340 Seiten.

Michalczyk, Lukasz; Welnicz, Weronika; Frohme, Marcus; Kaczmarek, Lukasz (2012), Redescriptions of three Milnesium Doyère, 1840 taxa (Tardigrada: Eutardigrada: Milnesiidae), including the nominal species for the genus. Zootaxa, 3154, 1-20.

Wikipedia
https://en.wikipedia.org/wiki/Milnesium_tardigradum
(dort das "Biopan-6" Experiment)


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach