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Exkurs: Das mikroskopische Sehen im Licht der Erkenntnisphilosophie (II)

Zur Erinnerung: Im letzten Journal hatten wir die bizarre blaue Umrisslinie auf einem mikroskopischen Originalbild (Abb. 1) gezeigt und angekündigt, nach einer Erklärung zu suchen. In zeitgemäß-plakativer Zuspitzung ergab sich somit folgende Fragestellung: "Wie viel Blau bzw. wieviel blaues Ei liegt hier vor?"


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Abb. 1: Detail der Cuticula eines Bärtierchens - mit einem, während der Häutung zurückgelassenen Ei. Der Durchmesser des Eies beträgt etwa 45 µm. Die hier untersuchte Moosprobe stammt von einem Spierenstrauch, wurde uns von einem wohlmeinenden Sympathisanten zur Verfügung gestellt.
Als Aufnahmegerät diente ein monokulares Hertel&Reuss "CN-fl" Mikroskop mit aufgesetzter Sony NEX-5N Kamera. Eine heftig vertiefende Diskussion der Aufnahmetechnik findet sich weiter unten auf dieser Seite.

Blaues Ei?
Ein nahe liegender, erster Ansatz besteht in der Betrachtung des hier anscheinend enthaltenen, logischen Widerspruchs: Wenn die Wandung des Eies in der Seitenansicht markant blau erscheint, müsste dann nicht das Ei als Ganzes, d.h. auch komplett flächig, zumindest ein wenig blau erscheinen?

Auf Abb. 1, im normalen Hellfeld (Betrachtungsweise A), ist hiervon jedoch absolut nichts zu sehen.
Auf Abb. 2, im Dunkelfeld (Betrachtungsweise B), wäre erfahrungsgemäß eine stärkere Farbsättigung zu erwarten. Aber auch dort ist auf der Innenfläche der Eier bestenfalls ein schwacher blauer Schimmer zu konstatieren.

Bleibt als nüchternes Fazit: Wohl doch eher kein so richtig blaues Ei?


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Abb. 2: Bärtierchen-Gelege aus der Spierenmoosprobe im improvisierten Dunkelfeld. Die blaue Umrisslinie ist hier nur noch partiell erkennbar, strahlt jedoch - wohl infolge der seitlichen Beleuchtung - anscheinend ein wenig ins Innenvolumen aus.

Dann wenigstens eine verlässlich blaue Linie?
Die blaue Randlinie bleibt uns erhalten. Sie ist reproduzierbar zu beobachten und definitiv keine Eigenart des zunächst eingesetzten Hertel&Reuss "CN-fl" Mikroskopes. Bei der Betrachtung an anderen Geräten erscheint sie in gleichartiger Weise, auch unter anderen Leuchtmitteln. Zur optimalen Separation des Farbeffekts wurden die hier interessierenden Eier aus einer Cuticula herauspräpariert, wobei die blaue Linie wieder eindeutig hervortrat:


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Abb. 3: Mikrofoto, ebenfalls im wässrigen Milieu, mit weiteren, aus einem gleichartigen Bärtierchen-Gelege herauspräparierten Eiern. Die blaue Konturlinie ist übrigens auch rein visuell durch die Okulare, nicht nur mittels Kameradisplay zu sehen.
Aufnahme an einem Meopta DN-816 Forschungsmikroskop, mit Niedervoltbeleuchtung.

Fazit: Die blauen Konturlinien erscheinen reproduzierbar und an unterschiedlichen Instrumenten, sind demnach wohl nicht als gerätespezifische Aufnahme-Artefakte zu interpretieren. Im nächsten Journal werden wir das Blaue-Linien-Phänomen zusätzlich im trockenen Milieu (ohne Wasser) und bei höherer Auflösung betrachten.
Inmitten des geschilderten Erkenntnisnebels scheint sich jedoch mittlerweile eine Erklärungsrichtung abzuzeichnen, die wir im Februar hier zur Diskussion stellen werden.







Exkurs: Vertiefende Anmerkungen zur Aufnahmetechnik für Abb. 1

Zum Einsatz kam eine kleine, mobile Mikroskopausrüstung auf Basis eines Hertel&Reuss "CN-fl" Schrägtubus-Mono-Mikroskopes, etwas aufgepeppt mit einem Leitz 10x GF Periplan Okular. Als Lichtquelle diente eine "Jansjö"-LED-Lampe. Die Aufnahme entstand durch das proprietäre, achromatische Hertel&Reuss 40x/N.A. 0,65 Objektiv (welches hier eine absolut befriedigende Abbildungsleistung zeigt).


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Abb. 4: GIF-Animation zur Demonstration der Vorgehensweise beim Fotografieren durch das "CN-fl"-Mikroskop. Kamera: Sony Nex-5N, nur fallweise mit Hilfe eines IHAGEE Mikroskop-Adapters (vgl. Journal von Juli 2019) am selben oder einem weiteren Schrägtubus angebracht. Am aufgeklappten Display lässt es sich - dank Bildschirmlupe und farbiger Kantenakzenturierung - gut arbeiten.

Hier geht es nun weiter zur technikverliebten Buchstabenwüste - muss man nicht mehr unbedingt lesen. So manch eine(r) wird angesichts von Abb. 4 vielleicht denken: ein uraltes monokulares "CN-fl"-Mikroskop? Wie ärmlich und erbärmlich!


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Abb. 5: Zwei etwas üppiger ausgestattete Hertel&Reuss Mikroskope der selben Baureihe ("CN"). Links im Bild die binokulare Variante CN-hF-BIN-VK-ZT, rechts das trinokulare Gerät CN-hF-BINfo-VK-ZT mit dem zusätzlichen Fototubus. Das Instrument auf der rechten Seite ist hier - lediglich der Schönheit wegen - spiegelverkehrt abgebildet. Für den Einsatz zuhause sind diese Modelle ideal. Im Falle einer Reiseplanung stellt der emsige Mikroskopiker jedoch schnell fest, dass der hF-Fuß mit der integrierten Beleuchtung ein größeres Behältnis erfordert ("hF" steht nicht umsonst für "hoher Fuß"). Hinzu kommt, dass der zusätzlich empfehlenswerte, externe Regeltrafo von sehr solider, althergebrachter Bauart ist und sich beim Transport (zwischen den Zähnen? - in die Kiste passt er ja nicht!) dementsprechend sperrig verhält.

Das einfachere und leichtere "CN-fl" prunkt jedoch, neben seiner Portabilität mit weiteren Vorteilen: Dank Spiegel und externer Lampe bleibt der Operator in der Lichtgestaltung flexibel, kann neben sehr variabler Helligkeit beispielsweise auch einfaches Dunkelfeld und schräge Beleuchtung einstellen.

Bei lediglich drei Objektiven und flachem Objekttisch ohne vorstehende Schräubchen lässt sich zudem bei Bedarf auch mal eine Petrischale ohne Kollisionsgefahr unter den Objektiven hin- und herschieben. Viele der üppiger ausgestatteten Bino- und Trinotuben wirken obendrein als kräftige Lichtschlucker - während der minimalistische Monotubus sich in dieser Hinsicht als sehr viel genügsamer erweist, wodurch die Jansjö-Lichtquanten ihre volle Wirkung entfalten können.

Dank der Tubus-Ringschwalbe könnte man übrigens alternativ auch durch einen Binotubus beobachten, und dann, falls das jeweilige Objekt fotowürdig zu werden droht, in Sekundenschnelle einen fertig montierten, separaten Mono-Fototubus aufsetzen. Das letzte Abwarten bis zur optimalen Fotografie kann dann im Live Modus der Kamera erfolgen oder - für die ganz Faulen unter uns - dem brav mitzeichnenden Videomodus überlassen werden. Dank der, in jeder beliebigen Position knochenhart zupackenden IHAGEE-Backenschraube wackelt übrigens - trotz der im Anwendungsbeispiel auf Abb. 4 gezeigten, unter 45° weit auskragenden Kamera - rein gar nichts.

Wo soviel nobler Glanz auftritt, wie hier beim Hertel&Reuss "CN-fl"-Mikroskop, ist leider auch mit etwas Schatten zu rechnen. Dieser manifestiert sich regelmäßig im tiefsten Inneren der Geräte: Dort befindet sich eine, anscheinend in den 1970er oder 1980er Jahren auf kostensparenden Kunststoff umgestellte Fokusspirale. Im gesunden Zustand werkelt diese willig, reicht kleinste Feinfokusjustagen vogelfedersanft an die panzerstabile, kugelkäfigkontrollierte Objekttischverstellung weiter. Irgendwann, nach Jahrzehnten, wenn man der Herstellerfirma beim besten Willen keine Schuld mehr zuschreiben kann, passiert dann leider manchmal Grässliches: Das Fett in den Kugellagerkäfigen verfestigt sich, arbeitet nun gegen die feinfühlige Fokusspirale. Es folgt unweigerlich der Moment, in dem die Vorteile einer altbackenen Metall-Fokusspirale gegenüber der ungemein modernen Kunststoff-Fokusspirale deutlich werden. Ein einziges Bild sagt auch hier mehr als tausend Worte:


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Abb. 6: Auwei - aus einem defekten Hertel&Reuss "CN-fl" Mikroskop demontierte Fokusspirale. In diesem Fall hat der oben geschilderte Mechanikzwist zum kompletten Durchbruch von vier Spiralgängen geführt (oben im Bild). Der Objekttisch nutzt nun die neu geschaffenen Wege, saust in einem Zug Richtung Erde.
Unser DIY-Raman besagt übrigens, dass es sich bei dem Spiralen-Kunststoff um ABS handelt, welches durchaus stabil und zählebig sein kann. Aber es ist eben so ähnlich wie beim Suppenhuhn: Nach vielen Jahren mühseliger Existenz lässt die Performance unweigerlich nach ... und klar, die bei den älteren CN-fl Mikroskopen enthaltene Fokusspirale aus massivem Metall kommt mit den wüsten mechanischen Gewalten besser zurecht als ihre kostendämpfende Nachfolgerin.



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach