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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #5: Macrobiotus hufelandi (C.A.S. Schultze, 1834)

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Abb. 1: Gesamtansicht eines Macrobiotus hufelandi-Bärtierchens. Typische maximale Körperlänge bis zu 600 µm.

Macrobiotus hufelandi ist Weltmeister in Sachen Nachhaltigkeit! Wieso?

(1) Er (oder zahlenmäßig häufiger: sie) konnte ihren Artnamen gegenüber einer Phalanx emsig umtaufender Bärtierchen-Taxonomen verteidigen - und dies seit der Erstbeschreibung durch C.A.S. Schultze1 vor fast 200 Jahren!

(2) Die Nachhaltigkeit ist sogar explizit im Namen festgeschrieben: Dieser erinnert an den Arzt Christoph Wilhelm Hufeland2 und dessen "Makrobiotik", einer Theorie zur Lebensverlängerung, primär durch vernünftige Ernährung. Auf diese Weise wurde das Wissen um die unglaubliche Lebenszähigkeit aller Bärtierchen stellvertretend im Namen ihres, wohl prominentesten Stammeshäuptlings3 Macrobiotus hufelandi verankert.


Macrobiotus hufelandi besitzt, wie viele andere Macrobiotus-Arten auch, Augenflecken die bohnenförmig (Abb. 2) oder rundlich geformt sein können.


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Abb. 2: Vorderleib eines Macrobiotus hufelandi-Bärtierchens. Man beachte die kräftigen, stark gekrümmten Stilette und die relativ breite Mundröhre, welche eine gemischt pflanzliche und tierische Ernährung vermuten lassen.

Im Schlundkopf befinden sich zwei Makroplakoide, das vordere etwa doppelt so lang wie das hintere und manchmal mittig eingeschnürt. An die beiden Makroplakoide schließen sich (siehe Abb. 3) noch sehr kleine, nicht immer sofort sichtbare Mikroplakoide an. Diese präsentieren sich unter günstigen Bedingungen wie folgt:

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Abb. 3: Schlundkopf eines Macrobiotus hufelandi-Bärtierchens. Der rote Pfeil zeigt auf eines der - in diesem Fall einwandfrei sichtbaren - Mikroplakoide (auch Kommas genannt). Gut erkennbar sind auch die beiden großen, sackförmigen Speicheldrüsen links und rechts am Schlundkopf.

Die Krallen des Macrobiotus hufelandi (Abb. 4) kommen auch bei anderen Bärtierchenarten in praktisch identischer Ausprägung vor. Die Fachliteratur bezeichnet ihre Gestalt deshalb artübergreifend als "Krallen vom Macrobiotus-Typ". Die Krallenhaupt- und Nebenäste ähneln einander in der Länge und sind bis auf etwa halbe Höhe miteinander verbunden. Bei höherer Auflösung lassen sich an den Hauptast-Enden zwei winzige Spitzchen erkennen.


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Abb. 4: Das letzte Beinpaar eines Macrobiotus hufelandi mit den charakteristischen, symmetrisch ausgeformten Krallenpaaren. Der rote Pfeil zeigt auf einen Hauptast, an dessen Seiten gerade noch die beiden erwähnten, feinen Spitzchen zu erahnen sind.

Die Arten der Macrobiotus-Gruppe unterscheiden sich nur wenig voneinander. Zur sicheren Differenzierung ist die Eigestalt von entscheidender Bedeutung (siehe zum Beispiel [Bertolani et al. 1993]).


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Abb. 5: Drei gleichzeitig abgelegte, aneinander haftende Eier eines Macrobiotus hufelandi. Der rote Pfeil zeigt auf den Schlundkopf eines bereits weitgehend fertig entwickelten Eis mit Makroplakoiden, Stiletten und breiter Schlundröhre. Das Makroplakoidmuster weist in Richtung Macrobiotus hufelandi.

Die Eier werden meist in einem Schub, als Gruppen von zwei bis vier aneinander haftenden Exemplaren, manchmal auch einzeln abgelegt. Gestalt und Größe der Ei-Ausschüsse sowie die Struktur des Untergrunds zwischen den Ei-Ausschüssen sind artcharakteristisch (siehe Abb. 6 bis 9).

Beim Vergleich der Abbildungen 7 bis 9 wird deutlich, dass die Enden der Ausschüsse individuell unterschiedlich sein können (in Abb. 7 und 8 etwas ungeordnet fransig erscheinend, in Abb. 9 regelmäßiger gelappt). Als Mikroskopie-Amateur sollte man sich allerdings mit derartigen Feinheiten nicht weiter belasten, statt dessen solche Eier als der Macrobiotus hufelandi-Gruppe "zugehörig" bezeichnen.


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Abb. 6: Die Ei-Oberfläche des Macrobiotus hufelandi weist eine feine Parzellierung auf. Die Basen der hier teilweise aus der Achse gedrückten Ei-Ausschüsse scheinen von einer Art Perlenkranz umgeben zu sein.

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Abb. 7: Die Ei-Ausschüsse des Macrobiotus hufelandi in ungestörter Seitenansicht bei hoher Vergrößerung (90er Ölimmersionsobjektiv).

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Abb. 8: Rechts oben im Bild ist die Feinstruktur der Kappen der Ei-Ausschüsse erkennbar. Diese erscheinen hier etwas unregelmäßig gefranst.

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Abb. 9: Die Ei-Ausschüsse einer anderen Variante des Macrobiotus hufelandi mit einer etwas anderen, ebenmãßigeren Zähnung.

Sonstiges
Macrobiotus hufelandi wurde in Deutschland an sehr vielen Orten nachgewiesen, ist hierzulande sicherlich eine der häufigsten, wenn nicht sogar die allerhäufigste Bärtierchenart. Sicherster Fundort sind periodisch austrocknende Moose. Außerdem wurden Vorkommen im Erdreich, im Süßwasser und sogar im Flußwasser bekannt (letzteres vielleicht als eine Art Unfall).

Des Geschlechterverhältnis scheint hochgradig variabel zu sein: Rolf Schuster untersuchte über 4 Jahre hinweg in 14tägigem Abstand auf einer Rasenfläche von wenigen Quadratmetern insgesamt 10.000 Macrobiotus hufelandi-Individuen. Er fand dabei kein einziges Männchen, jedoch viele Weibchen mit Eiern in unterschiedlichen Reifestadien. Dies kann als Beweis für eine sogenannte parthenogenetische Fortpflanzung (ohne Männchen!) gewertet werden. Dank dieser besonderen Fähigkeit fällt die Erschließung neuer Lebensräume sehr viel leichter - bereits ein einziges, im wahrsten Wortsinne vom Winde verwehtes Ei kann ja eine neue Population begründen!
An anderen Orten, beispielsweise dem Isarufer in der Münchner Innenstadt, ließen sich jedoch regelmäßig auch Macrobiotus hufelandi-Männchen finden. Mann/Frau vergleiche hierzu das Journal von August 2004 "Ein Mann!".



Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !

1 Carl August Sigmund Schultze, Macrobiotus hufelandii, animal e crustaceorum classe novum, Berlin 1834.
Schultzes Publikationstitel ordnet den Macrobiotus hufelandi somit den Krustentieren (crustaceae) zu. Die Unterschiede zwischen nah verwandten Macrobiotusarten sind sehr klein. Häufig wurde gutmeinend Macrobiotus hufelandi bestimmt, es könnte sich jedoch in vielen Fällen um eine andere, nah verwandte Art handeln. Dies zeigt sich auch am Beispiel des Macrobiotus hufelandi-Prototyps: 1834 hatte Schultze Macrobiotus hufelandi anhand von Moosen bei St. Ulrich (bei Freiburg im Breisgau) beschrieben. 1993 und 2011 wurde dieses Gebiet noch einmal von dem italienischen Tardigradenforscher Roberto Bertolani untersucht. Er fand dort den Originaltypus von Macrobiotus hufelandi, zusätzlich allerdings zwei weitere, neue Arten (Macrobiotus sandrae und Macrobiotus vladimiri). Die beiden neu hinzu gekommenen Arten wären in früheren Zeiten pauschal als Macrobiotus hufelandi klassifiziert worden.

2 Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), Namenspate von Macrobiotus hufelandi, war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Ziemlich unfair wäre es, sein Leben und seine Makrobiotik auf "Gutes Essen > langes Leben!" zu reduzieren. Der Wikipedia "Hufeland"-Eintrag verdient aus diesem Grund eine besondere Lese-Empfehlung! Auch heute noch hält die Hufeland-Gesellschaft sein Gedenken in Ehren.

3 Erst nach Schultzes Macrobiotus-Publikation wurden die Bärtierchen von Louis Doyère als eigenständige Gruppe interpretiert und schließlich mit dem hohen Rang eines eigenen biologischen Stammes (!) versehen.

2024 waren rund 1.500 Bärtierchenarten beschrieben, unterteilt in 35 Familien und 160 Gattungen. Macrobiotus bildet mit derzeit 141 Arten die größte Gattung innerhalb des Stammes der Bärtierchen. Zur Illustration des besonderen Stellenwerts eines biologischen Stammes sei angemerkt, dass die Menschen im Stamm der "Chordatiere" lediglich einem Unterstamm (Wirbeltiere) angehören, zu dem auch die Fische, Amphibien, Vögel, Reptilien und Säugetiere, insgesamt etwa 6.600 Arten zählen.

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Roberto Bertolani, Lorena Rebecchi (1993), A revision of the Macrobiotus hufelandi group (Tardigrada, Macrobiotidae), with some observations on the taxonomic characters of eutardigrades. Zoologica Scripta, Vol 22, No.2, 127 -152.

Roberto Bertolani, Vladimir Biserov, Lorena Rebecchi, Michele Cesari (2011), Taxonomy and biogeography of tardigrades using an integrated approach: new results on species of the Macrobiotus hufelandi group. Invertebrate Zoology, 8, 23-36.

Hieronim Dastych (1988), The Tardigrada of Poland. Monografie Fauny Polski 16, 1-255.

Hartmut Greven (1980), Die Bärtierchen. Wittenberg Lutherstadt.

Ian M. Kinchin (1994), The Biology of Tardigrades. London.

Carl August Sigmund Schultze (1834), Macrobiotus hufelandii, animal e crustaceorum classe novum. 8 Seiten, 1 Tabelle, Berlin (keine genauere Quellenangabe auffindbar).

Wikipedia-Einträge zu Carl August Sigmund Schultze und Christoph Wilhelm Hufeland.



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach