Das Bärtierchen-Journal
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Auch wenn Euch, liebe Leserinnen und Leser, das Thema "Bärtierchen-Häutung", mit welchem wir uns seit längerem befassen, wohl allmählich langweilen wird, wollen wir diesen Monat doch noch einmal kurz darauf zurückkommen:

Wir hatten gesehen, daß die abgeworfene Cuticula des Wasserbären Ramazzottius oberhaeuseri   eine deutliche Netzstruktur aufweist. Über die Vor- und Nachteile einer derart schollenförmig-granulierten Hauthüllen-Struktur hatten wir allerdings nicht weiter nachgedacht.

Schon früher ist manchem akribischen Fachautor aufgefallen (siehe z.B. Walter Maucci, unten bei Literatur), daß Ramazzottius oberhaeuseri sozusagen zwei Geisteraugen hat, welche beim lebendigen Tier nur schwer zu erkennen sind. Wer sich aber, wie wir, längere Zeit mit der abgeworfenen Cuticula herumgequält hat, stellt fest, daß gerade an diesem Objekt die besagte Geisteraugenstruktur im Kopfbereich besonders klar zu erkennen ist. Auch wenn das unten gezeigte Foto sicherlich keinen Preis gewinnen würde (weil kohlenkellermäßig-dumpf), zeigen sich deutlich die beiden linsenförmigen, schemenhaft an Augen erinnernden Strukturen. In diesen Bereichen scheint die Cuticula besonders klar, transparent und nicht granuliert zu sein.


[ Ramazzottius oberhaeuseri, Cuticula, Detail ]

Ramazzottius oberhaeuseri,
abgeworfene Cuticula, Detail des Kopfbereichs mit "Augenflecken".

Die linsenförmigen Strukturen messen in ihrer größten Ausdehnung ca. 8 bis 10 µm.


Als Amateure dürfen wir ruhig mal ein wenig wackelig argumentieren und folgende Arbeitshypothese aufstellen:

"Die diskutierten Bereiche sind deshalb glatt und durchsichtig, weil die Augen der Wasserbären direkt darunter liegen und eine durchgehend granulierte Cuticula, ähnlich wie eine Milchglasscheibe, den Ausblick und Bildeindruck in einem optischen System verderben würde."

Um diese Hypothese auch nur ein wenig aufrecht erhalten zu können, müßten wir zumindest zeigen, daß die Bärtierchen wirklich Augen haben und noch dazu mit diesen Augen ein Bildersehen möglich ist. Besonders bei einem vergleichsweise hochentwickelten Auge würde ein transparentes Fenster in der Cuticula sinnvoll erscheinen.

Werfen wir zuerst einen Blick in die Fachliteratur und schauen wir, was die Profis über das Thema "Bärtierchen-Auge" zu Papier gebracht haben. Hier eine kleine Auswahl einschlägiger Zitate aus umfangreicheren Publikationen, welche sich allesamt eingehend mit Tardigraden befassen:

"Den Außenlappen [des Oberschlundganglions] liegen invertierte Pigmentbecherocellen mit je einer Sehzelle dicht an ..." (E. Marcus: Tardigrada. S. 7. Berlin 1936.)

"Als Sinnesorgane dienen die Cirren sowie Pigmentbecherozellen, die dem Oberschlundganglion anliegen und nur eine einzige Sehzelle enthalten" (A. Kaestner: Lehrbuch der Speziellen Zoologie. Band I: Wirbellose, 1. Teil. S. 589. 3. Auflage. Stuttgart 1969.)

"There is a distinct anterior region which may or may not bear   eyespots  and  cephalic appendages " (C.I. Morgan, P.E. King: British Tardigrades. S. 2. London 1976.)

"Eutardigraden und die Echiniscoidea haben mehr oder weniger rostral den äußeren Lappen des Oberschlundganglions anliegende Augen (Ocellen), die nur aus einer Sinneszelle bestehen sollen und von einem schräg nach außen und vorn geöffneten Pigmentbecher umgeben sind. Das Pigment ist schwarz, bei den Echiniscidae auch rot, 'blinden' Exemplaren fehlt der Farbstoff.
...  Zur Ultrastruktur dieser Organe liegen bisher keine Untersuchungen vor." ( H. Greven: Die Bärtierchen. S. 25. Wittenberg Lutherstadt 1980.)

"In molte specie, sia di Etero- che die Eutardigradi, esistono occhi posti sui lobi esterni del cerebro, e costituiti da una sola cellula fotosensibile. Spesso (ma non sempre) la cellula fotosensibile è circondata da macchie pigmentate costituite da granuli più o meno sparsi, neri negli Eutardigradi, generalmente rossi, ma talora marrone o neri, negli Eterotardigradi Echiniscidi" (W. Maucci: Tardigrada. S. 14. Bologna 1986.)

"A pair of cup-shaped pigmented eyespots associated with the lateral lobes of the cerebral ganglion is also present in many species" (I.M. Kinchin: The Biology of Tardigrades. S. 52. London 1994.)

Kurz zusammengefaßt stimmen die Autoren offenkundig darin überein, daß das Bärtierchen-Auge zwar zweifelsfrei existiert, jedoch vergleichsweise primitiv ausgebildet ist und nur aus einer einzigen Sehzelle, manchmal in Verbindung mit ein wenig Pigment besteht. Hartmut Greven geht etwas weiter und läßt uns immerhin einen winzigen Hoffnungsschimmer, indem er einen nach außen hin geöffneten Pigmentbecher erwähnt, welcher ja vielleicht ein Richtungssehen, d.h. die zumindest grobe Lokalisation einer Punktlichtquelle ermöglichen würde. Auch stellt Greven einen Mangel an genaueren Untersuchungen fest.

Nachdem wir die faszinierenden Eigenschaften der Bärtierchen und ihre enorme Miniaturisierung, z.B. auch bei der  Muskulatur  , hier im Bärtierchen-Journal immer wieder ausgiebig bejubelt haben, sind wir nun doch ein wenig enttäuscht.

Unser hochentwickeltes Bärtierchen, welches sich durch die Lianen des finsteren Moosdschungels kämpfen muß, mit Bakterien in der subjektiven Größe eines Wiener Würstchens fertig wird und am Boden 100 m tiefer Gletscherschlote gefunden wurde, soll ein derart mickriges Sehorgan haben, wie wir es bei einem Staubwurm vermuten würden?

Je nach Temperament kann man nun einen Aufschrei der Empörung loslassen oder aber nochmal zurück in die Bibliothek und an's Mikroskop gehen - wir haben uns für die leisen Alternativen entschieden.

Schon recht früh haben sich die Profis Gedanken gemacht, was "niedere" Tiere sehen können. Ein schönes Beispiel ist die Monographie des Richard Hesse (siehe unten bei Literatur) über das Sehen der niederen Tiere von 1908. Bei William Carpenter (1891) finden wir sogar eine Abbildung, welche durch (!) das Facettenauge einer Fliege hindurch fotografiert wurde, um die optische Auflösung dieses Auges im Vergleich zu der des Menschen zu demonstrieren.
Schon Hesse zeigt verschiedene Entwicklungsstufen des Auges, ausgehend vom simplem Lichtdetektor, der nur Hell und Dunkel unterscheiden kann, über diverse Zwischenstufen hinweg, bis hin zum bildsehenden Linsenauge. Hesse hat auch ein schönes Argument, welches uns hilft, mit der Tatsache klar zu kommen, daß manche Tardigraden Augenpigment haben und andere nicht. Er weist einfach darauf hin, daß bei den Menschen auch die pigmentschwachen Albinos aller Wahrscheinlichkeit nach genauso sehen können wie ihre normal pigmentierten Artgenossen.

Ach ja, und dann ist die Redaktion in einem arg verstaubten Journal schließlich auf das folgende, bemerkenswerte Zitat über Bärtierchen-Augen gestoßen:

"Ich ... will nur hinzufügen, daß das Auge ... im Gegensatz zu dem, was XXX von anderen Formen mitgeteilt hat, durchaus kein einfacher Pigmentfleck ist. Das Auge ist hier ziemlich kompliziert gebaut ...
Ferner besitzt das Auge eine einheitlich gewölbte, sehr deutliche Linse."


Wer kennt den Namen des Forschers und weiß, wo und wann diese kecke Behauptung publiziert wurde? Als kleine Hilfe sei hinzugefügt, daß die besagte Publikation wesentlich älter ist als alle oben zitierten.
Wissen Sie es? Und glauben Sie an die Existenz einer derartigen, natürlich ultrakleinen Linse?

Die Redaktion freut sich schon auf Ihre Zuschriften.

Im nächsten Journal werden wir das Thema "Bärtierchen-Auge" entsprechend vertiefen. Bis dahin, alles Gute.


Literatur

Walter Maucci: Tardigrada. S. 256. Bologna 1986 ( zwei Abbildungen zeigen die "Geisteraugenstrukturen" bei Ramazzottius oberhaeuseri).

Richard Hesse: Das Sehen der niederen Tiere. Jena 1908 (sehr gute Einführung mit vielen Geistesblitzen, auch heute noch spannend zu lesen).

William Carpenter: The microscope and its revelations. S. 908. 7. Auflage, London 1891.


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© Text und Fotos von  Martin Mach