Das Bärtierchen-Journal
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Maritime Bärtierchen (VIII) - ein Schritt zurück

Ok, zugegeben, wir haben es falsch angefangen. Zunächst war geplant, den maritimen Bärtierchen nur ein oder zwei Ausgaben des Journals zu gönnen. Mittlerweile ist unsere Begeisterung gewachsen, und die einschlägige Literatur türmt sich auf den Schreibtischen. Da hilft nichts: wir müssen die Stapel wieder abarbeiten, am besten, indem wir unsere Entdeckerfreude mit Ihnen teilen. Tragen Sie es einfach mit Fassung und passen Sie auf, daß Sie nicht angesteckt werden. Man muß kein Martenstein sein, um sich die Familienkonflikte am maritimen Urlaubsort auszumalen, wenn die Hausfrau mal wieder stundenlang Bärtierchen mikroskopiert, statt, wie von zuhause gewohnt, den trägeren Multimillionenzellansammlungen das Warmfleischessen aufzutischen.

Die hervorragenden anatomischen Zeichungen des 1968 verstorbenen Ernst Marcus, welche das maritime Bärtierchen  Batillipes mirus  großformatig abbilden, mußten wir Ihnen bislang vorenthalten - weil wir das Copyright des Ehepaars Marcus respektieren wollten. Eine dieser Batillipes-Zeichnungen findet sich allerdings auch an anderen Stellen der Bibliothek des bibliophilen Bärtierchenfans, nämlich im Klassiker "Tardigrades" von Lucien Cuénot.

[ Cuénots Tardigradenbuch ]

Titelseite von Lucien Cuénots Klassiker "Tardigrades" (1932).
Das schöne und liebevoll illustrierte Werk eines sympathisch-unverkrampften Verfassers ist leider ein seltener Gast im Antiquariat, aber ... siehe unten.


Inzwischen hat die "Fédération Française des Sociétés de Sciences Naturelles" in ihrer Webkampagne "Éditions Faune de France" einige wirklich hervorragende Arbeiten weltberühmter Zoologen im Volltext ins Netz gestellt - und, Sie werden es schon ahnen, es ist auch das Tardigradenbuch des Lucien Cuénot mit dabei! Eines der vielen Reservate im Netz, das - so hoffen wir - geldgeilen "Beraterseelen" verborgen bleiben möge.

Gehen Sie einfach auf die Seite der generösen Fédération, wählen Sie dort unter Punkt "Faune n° 24" den kompletten Cuénot zum Download. Die 5,2 Megabyte schaffen Sie übrigens zur Not auch mit einem Modem. Drucken Sie die Seite 32 der PDF-Datei und schon haben Sie eine der Marcus-Grafiken mit der kompletten Batillipes-Anatomie in der Hand! Sollten Sie in Französisch nicht recht fit sein, verwenden Sie ganz einfach unsere Legende zur Cuénot-Abbildung 12, welche die Anatomie eines erwachsenen Batillipes-Männchens sogar noch ein wenig ausführlicher kommentiert:


A

Cirrus lateralis, zwei lange Borsten, ganz außen seitlich links und rechts am Kopf

an

Anus, im Lichtmikroskop am lebenden Tier nur schwer als kleiner Schlitz zu erkennen

c

Die Clava (aus dem Lateinischen: Knüppel, Keule), ein annähernd zylindrischer, langer Kolben, manchmal verdreht, manchmal einfach oder mehrfach eingeschnürt, mit offensichtlich komplexerer Innenstruktur. Der Clava wird heute allgemein die Funktion eines hoch differenzierten Chemosensors zugeschrieben. Bei Batillipes wurzelt die Clava zusammen mit dem Cirrus lateralis auf einem gemeinsamen Sockel.

cb1

Zwei körperachsensymmetrisch angeordnete Interne Kopfzirren (cirri laterali interni) mit Nervenanbindung zum Gehirn

cb2

Zwei körperachsensymmetrisch angeordnete Externe Kopfzirren (cirri laterali externi) mit Nervenanbindung zum Gehirn

cc

Schwanzfortsatz, dessen genaue Gestalt zwar individuell ein wenig variabel sein kann, jedoch im allgemeinen ein wichtiges Artcharakteristikum darstellt: Batillipes acaudatus (schwanzlos), Batillipes bullacaudatus (mit siegelförmig verdicktem Schwanzende usw.

cr

Cirrus medianus, einzelne am Rücken (dorsal) angebrachte, schräg nach oben zeigende Borste, deren mutmaßliche "inverse Wassersensorenfunktion" wir bereits im letzten Journal besprochen haben. Ebenfalls Nervenanbindung zum Gehirn

D

Zwei Borsten D, links und rechts seitlich am Körper angebracht, ohne Nervenanbindung

e

Kleine Seitendornen, nicht immer nachweisbar, die an einer meist größeren, seitlichen, lappenartigen (flügelartigen) Ausbuchtung auf der Höhe zwischen drittem und viertem Beinpaar, ansetzen. Die Ausbuchtungen sind für die Systematik wichtig, in der Abbildung jedoch leider nur andeutungsweise zu erkennen

ep1 ... ep4

Beindornen, manchmal schwer zu erkennen oder fehlend

g

Hoden, Umriß teils gestrichelt eingetragen, füllt beim geschlechtsreifen Männchen praktisch des gesamte rückwärtige Körpervolumen oberhalb des Magen-Darm-Traktes aus. In der Seitenansicht besser zu erkennen.

gb

Munddrüse, zur Neubildung der Mundwerkzeuge nach der Häutung, vermutlich gleichzeitig Speicheldrüse

gv

Unterschlundganglion, klassisches Strickleiterganglion unterhalb der Mundröhre, bauchseitig bis fast zum Körperende durchlaufend, mit vier Ganglienknoten, wie wir es schon am Beispiel der  Nerven von Milnesium tardigradum  kennengelernt haben

i

Darm, je nach Füllungsgrad sind typischerweise bis zu sechs symmetrische Darmventrikelpaare erkennbar. Meist mit einer braunen Algenmasse angefüllte, die kaum Strukturen zeigt

o

Mundöffnung

oc

Sogenannte Augenflecken, die zwar in ihrer Position Augen entsprechen, jedoch wohl nur aus Fettansammlungen ohne sensorische Funktion bestehen

og

Gonoporus, Austrittsöffnung für die Spermien

pb

Papilla cephalica oder Sekundäre Clava, bei Batillipes meist nur schwach ausgeprägt, keine Funktion bekannt

so

Großes, gelapptes Hirn oder Oberschlundganglion, oberhalb der Mundröhre

vs

Samengefäße, mit von links und rechts symmetrisch nach unten zum Gonoporus führenden Kanälen. Die symmetrischen Samengänge beim Männchen erlauben eine Unterscheidung geschlechtsreifer Männchen und Weibchen schon bei moderater Vergrößerung: Beim Männchen wirkt der Hinterleib absolut symmetrisch, während das terminale Eileiterende beim Weibchen asymmetrisch entweder links oder rechts vom Darm vorbeiläuft und meist in einer hellen, kugeligen Ausbuchtung (reifstes Ei) endet.



Die Zeichnung ist sehr schön, aber Sie wollen wissen, wie so ein Batillipeskopf ganz real im Mikroskop ausschaut? Bedenken Sie bitte, es ist alles wirklich sehr klein und schwer zu photographieren, aber bitteschön, hier kommt sie, die geballte Pracht der Batillipes-Mikrosensorik:


[ Kopf von Batillipes ]

Kopf eines Batillipes-Bärtierchens, von unten gesehen (bauchseitig). Dargestellt sind:
-- Cirrus A (A), lang, hier ein wenig verschwommen, andeutungsweise erkennbar
-- Chemosensor Clava (c). Beachten Sie die innere Feinstruktur der Clava
-- die externen und internen Cirrus medialis-Paare (cb2 bzw. cb1), Nerven teils schön zu sehen
-- die beiden sehr kleinen, sekundären Clavae (pb)
-- der hier nur angedeutete Cirrus medianus (cr) auf der Rückseite des Bärtierchens
Stark vergrößert, Ölimmersion. Bildbreite knapp 50 µm.


Und, last but not least: Werfen Sie unbedingt noch einen Blick in Dr. Lüttgens Interstitial Glossar , welches der Autor dem Bärtierchen-Journal freundlicherweise exklusiv zur Verfügung gestellt hat.
Es ist nicht nur ein Glossar: Sie können dort verschiedene Sammelmethoden via Text und Bild kennen lernen und werden natürlich auch einigen typischen Bewohnern der Sandkornwelten begegnen. Viel Spaß!



Literatur

Gallo D'Addabbo, M.; D'Addabbo, R.; de Zio Grimaldi, S.: Redescription of Batillipes dicrocercus Pollock, 1970 and Revision of the Genus Batillipes (Tardigrada, Heterotardigrada).
Zoologischer Anzeiger 239 (2000) S. 329 - 339.
[Anmerkung: Letzte uns bekannte Zusammenfassung des Kenntnisstands beim Genus Batillipes]

Reinhardt Kristensen: On the fine structure of Batillipes noerrevangi  Kristensen, 1978 (Heterotardigrada). Part 3. Spermiogenesis. S. 97 - 105. In: Barbara Weglasrka (Ed.), 2nd International Symposium on Tardigrades 1977. Krakow 1979.
[Anmerkung: eine auch für Amateure sehr gut verständliche, ausführliche Artcharakterisierung]

Ernst Marcus: Zur Anatomie und Ökologie mariner Tardigraden. Zoologische Jahrbücher, Systematik, Bd. 53 (1927) S. 487 - 558.
[Anmerkung: nach wie vor die ultimative Literaturstelle über Batillipes und Echiniscoides. Leider nicht online, es lohnt sich aber, diesen wunderbaren Artikel anderweitig, z.B. über den Lieferdienst SUBITO zu bestellen ].

Jeanne Renaud-Mornant und Leland W. Pollock: A Review of the Systematics and Ecology of Marine Tardigrada. In: Neil C. Hulings (Ed.), Proceedings of the First International Conference on Meiofauna. Smithsonian Institution Press, Washington 1971.

Ferdinand Richters: Tardigraden-Studien.
In: 40. Bericht der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft,
II. Teil: Wissenschaftliche Mitteilungen. S. 28 - 48 und 2 Tafeln. Frankfurt am Main 1909.
[Anmerkung: enthält die erste (!) Mikrofotografie eines Batillipes-Bärtierchens]

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© Text und Fotos von  Martin Mach