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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #10: Isohypsibius prosostomus (vormals Hypsibius prosostomus)

Isohypsibius prosostomus, im Jahr 1928 erstbeschrieben von Gustav Thulin, ist ein eher kleiner, manchmal aber auch mittelgroßer Tardigrade: Walter Maucci beschreibt die Körperlänge ausgewachsener Exemplare wohl zutreffend als "molto variabile", mit Werten zwischen 270 und 470 µm [Maucci 1986].
Hieronim Dastych nennt einen hiervon deutlich abweichenden Größenbereich, und zwar 210 µm bis 287 µm [Dastych 1988].


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Abb. 1: Isohypsibius prosostomus. In der Ganzkörperaufnahme sind bereits einige (und ja: leider bereits auch fast alle) wesentliche Merkmale dieser Art zu sehen: weitgehend transparent, schwarze Augenflecken, jeweils drei Makroplakoide pro Makroplakoidspalte, asymmetrische Krallen vom sogenannten Isohypsibius-Typ.

Isohypsibius prosostomus ist weit verbreitet, häufig auch in städtischer Umgebung zu finden, hat sich anscheinend mit dem dortigen Überfluss an Beton blendend arrangiert. Dementsprechend finden wir diese Art auf den Waschbetonverkleidungen von Mülltonnenhäuschen - und sogar in den allerkleinsten Betonrevieren, wie der in Abb. 2 gezeigten Betoneinfassung einer Kanalisations-Einstiegsluke:


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Abb. 2: Isohypsibius prosostomus. Ein typischer Fundort - die Betoneinfassung einer Blechklappe in der Münchner Innenstadt. Die Betonoberfläche dient als magerer Untergrund für ideal durchlüfteten Moosbewuchs. Bei Besonnung trocknet das Moos deshalb schnell aus, wodurch sich die Gefahr eines, für die Bärtierchen potentiell gefährlichen bakteriellen Befalls drastisch reduziert. Sehr wahrscheinlich wird im hier gezeigten Fall die periodische Austrocknung des Mooses durch den direkt benachbarten, sich in der Sonne regelmäßig erwärmenden Metalldeckel noch zusätzlich begünstigt. Pseudo-arides Klima inmitten einer städtischen Wiese!

Zur Freude der Taxonomen gibt es ein zusätzliches, unverwechselbares Erkennungsmerkmal für Isohypsibius prosostomus, nämlich eine Kutikularleiste, die an den vorderen Beinpaaren I bis III auftritt (nicht jedoch an Beinpaar IV), und zwar jeweils unterhalb des längeren Arms der Innenkralle:


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Abb. 3: Ein Vorderbein von Isohypsibius prosostomus bei mittlerer Vergrößerung. Der rote Pfeil markiert die taxonomisch wichtige Kutikularleiste unterhalb der Innenkralle. Diese Leiste ist nicht gerade riesig, bei der Lebendbeobachtung dementsprechend leicht zu übersehen.
Standbild aus einem Video.

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Abb. 4: Detail eines Geleges von Isohypsibius prosostomus bei stärkster Vergrößerung. Der rote Pfeil markiert wieder die Kutikularleiste unter dem Bogen der Innenkralle an einem der vorderen Beinpaare. Sie ist hier etwa 5 µm lang und 0,5 µm schmal!

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Abb. 5: Bevor nun die Kutikularleistenbegeisterung überbrandet, möchten wir die Leiste vorsichtshalber in Relation zum Gesamtkörper zeigen - es handelt sich demnach um ein zwar wichtiges, jedoch leider auch furchtbar kleines Merkmal! Standbild aus einem Video.

Im Schlundkopf von Isohypsibius prosostomus befinden sich Spalten von jeweils drei, etwa gleichartigen Makroplakoiden und kleine Mikroplakoide:


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Abb. 6: Der Vorderleib von Isohypsibius prosostomus. Die Makroplakoidspalten bestehen aus jeweils drei Elementen. Außerdem vorhanden ist ein kleines Mikroplakoid.

Die Eier von Isohypsibius prosostomus werden bei der Häutung in der schützenden Cuticula zurückgelassen. Sie sind rundlich und glattschalig, besitzen keine Ei-Ausschüsse und scheinen deshalb auf den ersten Blick für die taxonomische Einordnung nicht hilfreich zu sein. Jedoch erlaubt ihre Anzahl Rückschlüsse auf die vorliegende Art, und zwar aus folgendem Grund: Tardigraden-Eier sind nicht beliebig miniaturisierbar. Sogar kleinste Arten, wie beispielsweise der mit 0,1 mm ernsthaft winzige Bryodelphax parvulus legen Eier mit mindestens 40 µm Durchmesser ab. Wenn nun solche Eier in einer Cuticula untergebracht werden müssen, sind große Tardigraden wie etwa Thulinius augusti (vormals: Hypsibius augusti) klar im Vorteil. Bei diesen Bärtierchen-"Riesen": finden in der Cuticula bis zu 40 Eier Platz! Beim zwergenhaften Bryodelphax parvulus sind es hingegen maximal drei, beim hier vorgestellten, etwas größeren Isohypsibius prosostomus typischerweise maximal bis zu 10 oder 11. Somit können wir bei gut gefüllter Cuticula durch einfaches Abzählen auf die relative Körpergröße des jeweiligen Tardigraden rückschließen.


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Abb. 7: Gelege von Isohypsibius prosostomus mit 7 Eiern (nicht maximal befüllt). Die Eier befinden sich im sogenannten Morula (Maulbeer)-Stadium, bestehen demnach bereits aus vielen Zellen, zeigen jedoch noch keine erkennbare Differenzierung im Hinblick auf Klauen, Mundröhre, Stilette usw.
Man beachte, dass sich auch hier wieder blaue Konturlinien um die Eier finden, deren Entstehung in unserem vorletzten Journal (April 2025), bei Hypsibius scabropygus erklärt wurde.




Taxonomische Vertiefung

Prosostomus: Die Artbezeichnung ist zu übersetzen als "nach vorne gerichteter Mund".

Die in der Einleitung konstatierten, drastischen Abweichungen einer Körpergröße sind in der Biologie nichts Außergewöhnliches. Ein gutes Beispiel liefert der Weiße Hai, bei dem in der älteren biologischen Literatur durchwegs Körperlängen von bis zu 12 m (!) genannt werden - während die aktuelle Literatur auf der Basis dokumentierter Funde von maximal 6 Metern ausgeht.

Bei den Bärtierchen ist es nicht anders: Ernst Marcus beschreibt das maritime Bärtierchen Batillipes mirus als maximal 720 µm lang, während wir am "Locus typicus" (in der Kieler Förde) kein einziges Exemplar finden konnten, das größer als 300 µm gewesen wäre.

Über die Ursachen können wir nur spekulieren: Handelt es sich vielleicht doch um einzelne Riesen, etwa wie den Bösewicht "Beißer" in einem James-Bond-Film? Oder könnten den jeweiligen Autoren in der Eile des Gefechts manchmal Messfehler unterlaufen sein? Vor der automatischen Maßstabseinblendung und der Einführung der elektronischen Bildverarbeitung war die Größenbestimmung am Mikroskop zwangsläufig fehleranfälliger. Nicht vergessen sollten wir zudem, dass zoologische Körpergrößen meist mit einer viel zu großen Präzision angegeben werden. Wir können ja nicht einmal die Körpergröße des aktuellen U.S.-amerikanischen Präsidenten auf einen Zentimeter genau benennen (obwohl er bildlich ziemlich präsent ist!). Beim Bärtierchen wird typischerweise im leicht gekrümmten bzw. am Dauerpräparat durch Pressung gelängten Körper gemessen. In beiden Fällen ist es sicherlich nicht angebracht, die Körperlänge auf 1% genau zu "messen".




Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !


Lucien Cuénot (1932), Tardigrades. S. 86-87. Band 24 der Reihe Faune de France.

Hieronim Dastych (1988), The Tardigrada of Poland. S. 119-122. Monografie Fauny Polski 16.

Hartmut Greven (1980), Die Bärtierchen.

Hartmut Greven (2018), From Johann August Ephraim Goeze to Ernst Marcus: A Ramble Through the History of Early Tardigrade Research (1773 until 1929).
In R. O. Schill (Ed.), Water Bears: The Biology of Tardigrades (pages 1-55). Springer, Cham.

Walter Maucci (1986), Tardigrada. S. 272-273.

Gustav Thulin (1928), Über die Phylogenie und das System der Tardigraden.
Hereditas 11, 207-266.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach