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Lupen für Fortgeschrittene (XIX)
Verschwommene Historie - über die Anfänge des Lupen-Vergrößerns
Hier: Der Widerspenstigen Zähmung - kniffliger als man meinen sollte!

Abb. 1 zeigt eine klassische moderne Leselupe - das wohl denkbar einfachste optische Gerät. Sie umfasst eine große, bikonvexe Linse und endet in einem langen, zylindrischen Griff, mit dem auch extreme Grobmotoriker keine Schwierigkeiten haben sollten.


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Abb. 1: Klassisch-minimalistische Leselupe aus dem 20. Jahrhundert mit Bakelitgriff.
Große Linse, deshalb Benutzung fernab vom Auge, direkt über dem Betrachtungsobjekt. Linsendurchmesser stolze 9,5 cm, Gewicht 208 g.
Nota bene: Das bei diesem Exemplar technisch fortgeschrittene Design des metallischen Linsen-Fassungsrings kommt ohne den - ansonsten praktisch immer zu beobachtenden und nur schwer kaschierbaren - Fügeschlitz in Position 6 Uhr aus!

Insofern absolut trivial und wirklich einfach zu erfinden - könnte man meinen. Kurioserweise dauerte es jedoch Jahrtausende, bis die handgehaltene Leselupe (ein weitab vom Auge, direkt über dem jeweiligen Betrachtungsobjekt geführtes Instrument mit großer Linse) ihre heutige Gestalt annahm. Linsen aus Glas kennt man seit Jahrtausenden. Ihr routinemäßiger Einsatz in Form von optischen Instrumenten erfolgte jedoch zögerlich, sprunghaft und auf merkwürdigen konstruktiven Umwegen:

Spätestens für das 14. Jahrhundert sind in Italien erste Brillen schriftlich und bildlich dokumentiert (vgl. z.B. Poulet, Bd. II, S. 8).
Um 1350 scheint es dort auch monokelartige Einzellinsen-Lupen gegeben zu haben, die ähnlich wie die Brille direkt vor das Auge gehalten wurden. Der Schritt zur seniorenfreundlichen Leselupe (einer Handlupe mit großer Linse) verlief jedoch sehr viel zögerlicher. Zu vermuten ist, dass die Größe der Linse dabei eine Rolle spielte. Bereits im letzten Journal hatten wir gesehen, dass die Montage der Linsen immer Probleme mit sich brachte, wobei man zunächst der Einfachheit halber flexibles Leder und thermoplastisches Horn bevorzugte. Holz kam grundsätzlich auch in Frage und wurde auch verwendet, war jedoch nicht gleichermaßen schlank zu verarbeiten, nicht flexibel genug, vor allem aber tendenziell schrumpfungs- und rissanfällig. Massives Metall wäre deutlich schwerer in Form zu bringen, könnte im Ergebnis obendrein ziemlich plump ausfallen.


Vor ca. 250 Jahren standen die Nürnberger Optiker vor genau diesem Problem: Wie könnte man die relativ große und schwere Linse für ein Leseglas am elegantesten fassen und möglichst ergonomisch in den Griff bekommen? Im Unterschied zur Situation bei den wesentlich kleineren Brillengläsern schieden Leder, Holz und Horn als erste Wahl aus: Im Falle des Leders wäre das Gesamtkonstrukt sicherlich zu weich geworden. Ein großer Holzring wäre entweder zu plump oder zu rissanfällig ausgefallen - und hätte die Linse ohne zusätzliche Bauteile nicht sicher halten können. Horn wäre, wie wir bereits früher gesehen haben, als reversibel quellbares Material zur Linsenfassung prinzipiell gut geeignet, wird jedoch im gewünschten, großen Durchmesser Mangelware sein. Die zur Fassung heutiger Leselupenlinsen problemlos verfügbaren, metallischen Halbzeugmaterialien standen im 18. Jahrhundert noch nicht als preiswerte, industrielle Massenware zur Verfügung, mal ganz zu schweigen von geeigneten Feingewinden und Schrauben. Schließlich kam jemand auf eine Idee - hier sehen wir das Ergebnis:


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Abb. 2: Sogenannte Nürnberger Lupe. Fassung mit ca. 2 mm starkem Kupferdraht;
dünnere, ca. 0,3 mm starke Wickel- und Spanndrähte aus - mutmaßlich verzinntem - Kupfer.
Gesamtlänge 130 mm, Linsendurchmesser 6,5 cm, Gewicht 37,6 g. Gut farbneutrales, jedoch bereits mit bloßem Auge erkennbar blasenhaltiges Glas, die Linsenränder grob zugeschliffen. Das Glas fluoresziert unter UV 365 bräunlich. Brechwert 4,5 Dioptrien (einen ca. 1,35 fachen Vergrößerungseindruck liefernd).
Lupen dieses Typs sind laut William Poulet [Poulet 1978] etwa in den Zeitraum zwischen 1760 und 1805 einzuordnen: vgl. Poulet Band I, am besten passende Belegexemplare Z195 ("um 1760") und Z200 ("1805").

Die Nürnberger Optiker entschieden sich für einen gewalzten Kupferdraht, der an der Innenseite konkav eingewölbt ist. Auf diese Weise gelang es, die archaische Linse zu umfassen und zuverlässig einzuspannen:



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Abb. 3: Detail der Nürnberger Lupe von Abb. 2. Hier ist die kesselbodenförmig-konkave - deshalb das Linsenglas sicher umfassende - Ausformung des breiten Kupferdrahts deutlich zu erkennen. Die Linsenverspannung erfolgt mit Hilfe von zwei Umgängen eines sehr viel feineren, silbrig erscheinenden, an den Enden verzwirbelten und scharfkantig gekappten Drahtes.
Die Linsenränder erscheinen auffällig grob zugerichtet. Im Vergleich mit Abb. 1 ist ein, mit 15 mm Breite extrem weit klaffender, Linsen-Ringfügeschlitz in Position 6 Uhr zu konstatieren - trotzdem ein elegantes und vor allem leichtes Design!

Der massive Kupferdraht übernimmt zusätzlich die Funktion eines Handgriffs, wird an dessen Ende mit weiterem Dünndraht zusammengehalten:


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Abb. 4: Detail der Nürnberger Lupe von Abb. 2. Die unteren Enden des (gröberen) Fassungsdrahts sind durch vielfache Wicklungen aus feinerem, silbrig erscheinendem Kupferdraht zueinander fixiert.

Man mag heute über die hier gezeigten, konstruktiven Eigenwilligkeiten der Nürnberger Lupe schmunzeln. Tatsache ist jedoch, dass die quasi konkav-gestützt verzurrende Linsenfassung mit integriertem Griff in großer Stückzahl hergestellt wurde. Sie dürfte über viele Jahrzehnte hinweg im Raum Nürnberg als volkstümliche Leselupe marktführend gewesen sein und zählt sicherlich mit zu den frühesten großlinsigen Lesegläsern.

Abschließend sei angemerkt, dass wir hier natürlich wieder einmal nur an der Oberfläche einer wirklich komplizierten Historie kratzen. Parallel zum Nürnberger Drahtlupendesign entwickelte sich spätestens ab dem 18. Jahrhundert eine deutlich breiter gefächerte Materialpalette: Bei den britischen "Quizzing Glasses" finden sich reichlich metallische Fassungen, auch solche aus Silber und Gold. Bei den, ebenfalls britischen "Library Magnifiers" kam es dann doch wieder zur Verwendung von besonders stabilen, rötlich-dunkel erscheinenden Hölzern.


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Abb. 5: Britischer "Library Magnifier" - eine im 19. Jahrhundert weit verbreitete Leselupe, aber auch einfach Universallupe, beispielsweise zur Betrachtung von Gemälden. Die Fassung besteht aus einem offensichtlich besonders veränderungsstabilen Hartholz. Ein extrem fein gedrechselter, eingepresster Holzring fixiert die Linse sehr präzise in der Fassung.

Die Altersbestimmung und regionale Zuordnung der Lupen wird nicht zuletzt durch die Tatsache erschwert, dass ältere Exemplar (mit Ausnahme von wenigen Luxusprodukten) keinerlei Beschriftung tragen, so dass die Einordnung in vielen Fällen spekulativ bleiben muss.



Literatur

Generelles: Das Internet liefert heutzutage reichlich Literatur zur Geschichte der Brille, in Abundanz und Redundanz. Als vorbildliches Beispiel einer umfassenden Materialsammlung sei hier lediglich stellvertretend das online verfügbare, internationale Sammler-Journal zur historischen Ophtalmologie genannt. Sehr viel schlechter ist es jedoch um die Geschichte der Lupen bestellt. Sie findet sich fast immer nur als Beifang innerhalb der Brillen-Literatur.

Raymond Giordanos exquisiter Ausstellungskatalog zielt im Schwerpunkt auf besonders kostbare "einfache" (einstufige) historische Mikroskope sowie hoch vergrößernde Lupen für Naturbeobachter und Forscher, kann für Vergleiche mit den einfacheren Lupen jedoch sehr nützlich sein:
Raymond V. Giordano: Singular Beauty. 2006. 64 S.

William Poulet: Die Brille. Drei großformatige Bände mit über 2.000 Abbildungen. Bonn 1978.
[Anmerkung: Auch wenn der Titel etwas anderes erwarten lässt, finden sich in den üppig bebilderten Glanzpapierbänden - mit einem Gesamtgewicht von 8 kg - neben vielen Brillen auch reichlich Abbildungen von historischen Eingläsern und Lupen. Als Besonderheit sei erwähnt, dass in großem Umfang historische Gemälde und andere datierbare Bildquellen zur zeitlichen Einordnung der Objekte herangezogen werden.]



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach