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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #9: Grevenius granulifer (vormals Isohypsibius granulifer)

Grevenius granulifer wurde von Gustav Thulin entdeckt und unter dem Namen Isohypsibius granulifer erstbeschrieben [Thulin 1928]. Im Rahmen der, taxonomisch anscheinend unvermeidlichen Aufsplittung des Genus Isohypsibius entstand der aktuelle Genusname Grevenius.


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Abb. 1: Grevenius granulifer - Junges und deshalb vergleichsweise kleines Exemplar von einem Bärtierchen, das praktisch ausschließlich im Süßwasser vorkommt.
Achtung: Schwarzes Augenpigment ist vorhanden - es liegt jedoch bei dieser Aufnahme außerhalb der Schärfeebene!

Es ist nicht ganz einfach, Augen, Granulation, Schlundkopf und Krallen gleichzeitig einigermaßen scharf abzubilden. Versuchen wir es trotzdem:


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Abb. 2: Die schwarzen Augen von Grevenius granulifer befinden sich weit vorne am Kopf. Dank der Transparenz ist der Verdauungsfortschritt im Magen-Darm-Trakt gut nachvollziehbar. Körperlänge ca. 0,3 mm.

Die hier gezeigten Bärtierchen stammen aus einem Teich im Norden Münchens. Bei geringer Wassertiefe und frühjahrstypisch sprießendem Mikro-Leben fühlt sich granulifer offensichtlich besonders wohl, schlemmt ausgiebig und weitgehend vegan, inmitten von winzigem Blatt-Detritus im hellen Bodenschlamm.


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Abb. 3: Der Fundort, ein flacher, stark krötenfrequentierter Teich im Norden Münchens, in unmittelbarer Nachbarschaft (direkt östlich) der Isar. Links im Bild ist das Dach der hölzernen St. Emmerams-Isarbrücke zu sehen. Bei dem direkt oberhalb der Steinplastik gerade noch erkennbaren, winzigen Spitzchen handelt es sich übrigens um eine dem Bischof Emmeram gewidmete Bronzeplastik. GPS-Koordinaten: 48.177934, 11.626055.

Für die Artzuordnung ausschlaggebend und namensbestimmend ist die charakteristische Körnung der Cuticula (das "granulifer" steht für "körnertragend").


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Abb. 4: In der Seitenansicht von Grevenius granulifer ist die Granulation der Cuticula besonders gut erkennbar. Das hier gezeigte Weibchen trägt noch nicht völlig ausgereifte Eizellen in sich und befindet sich gerade im Stadium der Häutung. Körperlänge ca. 0,4 mm.

Der Schlundkopf erschien uns zunächst etwas schwierig zu beurteilen: In manchen Beschreibungen steht - ohne viele Umschweife - zu lesen, es hätte im Schlundkopf Makroplakoidspalten, die aus jeweils drei, etwa gleich langen Elementen bestünden (vgl. z.B. [Dastych 1988]).
In Abb. 5 sieht es jedoch so aus, als wären womöglich nur zwei Makroplakoide vorhanden und zwar ein vorderes, langes mit horizontaler Einschnürung sowie ein hinteres, kürzeres.

Wie so oft bringt Lucien Cuénot auch hier wieder Licht in den Dschungel der Taxonomie, und zwar durch seine Anmerkung, es seien zwar drei Makroplakoide, die beiden vorderen jedoch "contigu". Ein Blick ins Wörterbuch - okay, auf Google - zeigt, dass dies als "zusammenstoßend" zu übersetzen ist, wodurch sich die taxonomische Verzweiflung in Wohlgefallen auflöst.

Als weitere Bestätigung der Artzuordnung ist das Fehlen des sogenannten Mikroplakoids (einem kleinen Körnchen im rückwärtigen Teil des kugeligen Schlundkopfs) zu konstatieren.


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Abb. 5: Der Schlundkopf von Grevenius granulifer bei starker Vergrößerung.
Quasi zweieinhalb Makroplakoide pro Makroplakoidspalte. Die Entscheidung über diese wichtige Frage (das "zwei oder drei") gebührt eindeutig den Taxonomie-Profis! Immerhin unzweifelhaft erscheint die Beobachtung, dass hier kein zusätzliches Mikroplakoid im Kaumagen vorliegt.

Angesichts der sehr spezifischen Granulation und des Lebensraums in einem Teich befinden wir uns in der komfortablen Situation, nicht mehr allzu intensiv über eine Artbestätigung durch die Krallenform nachdenken zu müssen. Trotzdem können die Abbildungen 6 und 7 zur Bestärkung der Einschätzung dienen, dass hier tatsächlich Krallen vom sogenannten Isohypsibius-Typ vorliegen.


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Abb. 6: Die Krallen am letzten Beinpaar eines besonders kleinen, deshalb fotografisch schlecht darstellbaren Exemplars von Grevenius granulifer. Die inneren und äußeren Krallen sind ähnlich geformt und ähnlich groß, die innere Kralle zeigt einen deutlichen Buckel (roter Pfeil). Man beachte, wie unterschiedlich die Krallenform in Abhängigkeit von der räumlichen Orientierung erscheint (die Krallen an den beiden gezeigten Beinen sind ja gleich geformt!) und vergleiche mit Abb. 7.

Die Betrachtung im mikroskopischen Phasenkontrast kann noch weitere Details zur Morphologie der Krallen beitragen:


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Abb. 7: Eine bei der Häutung abgeworfene Cuticula (alte "Haut") von Grevenius granulifer. Da hier ohne Schaden stark geplättet werden darf, kann der Phasenkontrast seine Stärken ausspielen und die Merkmale der Isohypsibius-Krallen besonders ausgeprägt, wenn auch - wie bekannt - nicht streng realitätsgetreu wiedergeben. Die Verfremdungsproblematik durch extreme Kontrastüberhebung macht sich besonders bei der Feinstruktur der Cuticula bemerkbar, welche man sich in Wirklichkeit wohl eher als lederähnliches Noppenmuster vorstellen muss.


Die glattschaligen Eier werden, wie bei Hypsibien üblich, während einer Häutung in der abgeworfenen Cuticula deponiert:


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Abb. 8: Gelege von Grevenius granulifer mit 9 Eiern, jeweils ca. 50 µm im Durchmesser. Als Substrat wird anscheinend ein möglichst fester Untergrund bevorzugt, und sei es auch nur ein winziges Pflanzenfragment. Aufnahme im Mikroaquarium bei dicker Wasserschicht, Auflicht.


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Abb. 9: Ein weiteres Gelege von Grevenius granulifer, diesmal mit 12 weitgehend reifen Eiern. Aufnahme im Durchlicht. Bildbreite knapp 0,5 mm.


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Abb. 10: Detail eines Geleges von Grevenius granulifer. Bereits in dieser frühen Lebensphase zeigt sich die oben geschilderte Schwierigkeit, zwischen Makroplakoidspalten aus zwei oder drei Elementen zu unterscheiden!

Abgeworfene Cuticulae erlauben es uns, der Frage nachzugehen, wie die namensgebende Oberflächenkörnung der Spezies denn nun tatsächlich in der Fläche aussieht! Die eher an scharfkantige Splitter erinnernden, dunklen Sprenkel der Phasenkontrastaufnahme (Abb. 7) stehen nämlich in krassem Widerspruch zur Zeichnung bei [Maucci 1986], auf der eindeutig rundliche Noppen zu sehen sind.

Dies sei an Hand einer Gegenüberstellung von Phasenkontrastaufnahme und normalen Hellfeldfotos erklärt:


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Abb. 11: Phasenkontrastaufnahme einer abgeworfenen Cuticula von Grevenius granulifer mit leeren, zerknitterten Eischalen - bei hoher Vergrößerung. Die räumliche Geometrie der fleckig erscheinenden Oberflächenstruktur bleibt hier leider unklar.


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Abb. 12: Lichtmikroskopische Aufnahme einer abgeworfenen Cuticula von Grevenius granulifer mit leeren Eischalen, ebenfalls bei hoher Vergrößerung, im normalen Durchlicht - quasi in partieller Profilansicht. Aus dieser Perspektive ist die Noppencharakteristik der umgebenden Cuticula zwischen den glattschaligen, zerknitterten Eihüllen bereits ansatzweise erkennbar.


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Abb. 13: Lichtmikroskopische Aufnahme einer abgeworfenen Cuticula von Grevenius granulifer im Schräglicht. Hier kontrastieren die, auf glatter Oberfläche aufsetzenden Noppen der Cuticula besonders klar. Diese Noppen sind nicht streng regelmäßig verteilt. Man könnte vielmehr sagen, sie sähen aus wie auf Abstand gestreut. Dieser Abstand scheint individuell, vielleicht lebensalterbedingt unterschiedlich groß zu sein. Trotz teils deutlich unterschiedlicher Grundflächenform ähneln die Noppen einander - wegen ihrer durchwegs rundlichen Kanten und ihrer gleichartig erscheinenden Höhe. Bildbreite ca. 0,3 mm.

Die Diskrepanz der Bildeindrücke (Phasenkontrast vs. Hellfeld) lässt sich wohl anschaulich am besten wie folgt erklären: Die Charakteristik der Körnung kann man sich ähnlich vorstellen wie ein Szenario von, auf flacher Ebene verstreuten Sandspielzeugformen - allesamt rundlich, aber mit relativ steil aufsteigenden Wandungen. Abb. 12 lässt diese rundlichen Formen bereits erahnen, sehr viel klarer erscheint die Situation jedoch in der Schräglichtaufnahme (Abb. 13).

Das Phasenkontrastkontrastbild (Abb. 11) basiert hingegen auf einem, durch stofflich unterschiedliche Lichtwege verursachten Lichtwellen-Phasenversatz. Es stellt diesen Versatz übersteigert und kontrastüberhöhend dar. Im Ergebnis entsteht eine Art Hochkontrast-Röntgenaufnahme, wobei Oberflächengeometrie und realitätsnahe Darstellung der Räumlichkeit auf der Strecke bleiben.

Eine, mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln erstellte lichtmikroskopische Schräglicht-Aufnahme am natürlichen, unverfälschten Objekt, wie die in Abb. 13, kann somit erheblich zur Motivation der Mikroskopie-Amateure beitragen: Sie führt in diesem speziellen Fall zu einem ähnlich guten räumlichen Verständnis der Cuticula-Außenoberfläche wie die rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen in der professionelleren, wissenschaftlichen Literatur (siehe z.B. [Gąsiorek 2024]).

Und klar, so ein Raster-Elektronenmikroskop (REM) kostet ein paar Mille, von Präparationsverfremdungen und anderen Problemen gar nicht zu reden: Wenn beispielsweise dem REM-Bild - der Bärtierchen-"Gesichtswirkung" halber - falsche Augen aufgemalt werden, ist das im Grunde genommen furchtbar traurig.

Das gewöhnliche Lichtmikroskop kann sogar zu einem räumlichen Verständnis des inneren Aufbaus der Cuticula beitragen: Während das REM nur die äußerste Oberfläche der Bärtierchen abzubilden vermag (wie bekannt auch keine Augen und keinerlei innere Anatomie) erlaubt es das Lichtmikroskop, die in Abb. 2 und Abb. 4 erkennbare Doppelbödigkeit der Cuticula im wahrsten Wortsinne vertiefend zu studieren. Bei behutsamem Einsatz der Fokusschraube offenbart die Cuticula nach und nach Einblick in ihre bei [Greven 1980] bildlich dargestellte Schichtcharakteristik, wobei unter den "Sandformen" tiefer liegende Schichten mit sub-mü Körnung und dem zu Grunde liegenden Zellverbund erkennbar werden:


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Abb. 13: Beim Tieferfokussieren, beginnend an der äußersten Schicht der Cuticula ("Epicuticula" nach [Greven 1980]), erreichen wir die hier dargestellte untere Cuticula-Grenzschicht, und schließlich zuunterst die "Procuticula" (ebenfalls nach Greven), welche aus einem Monolayer von polygonal erscheinenden Zellen besteht und für den Bau der nicht-zellulären Cuticula zuständig ist. Diese Aufnahme steuerte übrigens ein von Parasiten gemeucheltes Exemplar von Grevenius granulifer bei, dem wir deshalb ohne wissenschaftlichen Sadismus fotografisch nahetreten konnten.





Taxonomische Vertiefung

Der neue Genusname "Grevenius" ist ein Patronym, d.h. eine zu Ehren einer Person vergebene Genusbezeichnung. Er soll an Prof. Hartmut Greven, den deutschen Altmeister der Bärtierchenforschung erinnern, von dem wir gerüchteweise vernehmen, dass er gerade an der Neuauflage seines Buches "Die Bärtierchen" [Greven 1980] arbeitet. Wir warten mit Spannung!




Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !


Lucien Cuénot (1932), Tardigrades. S. 86. Band 24 der Reihe Faune de France.

Hieronim Dastych (1988), The Tardigrada of Poland. S. 126. Monografie Fauny Polski 16.

Piotr Gąsiorek (2024), Grevenius granulifer (Thulin, 1928) revised: a fresh look at one of the most intensively studied water bears (Eutardigrada: Isohypsibioidea).
https://doi.org/10.1007/s13127-024-00658-7

Hartmut Greven (1980), Die Bärtierchen. S. 16/17.

Hartmut Greven (2018), From Johann August Ephraim Goeze to Ernst Marcus: A Ramble Through the History of Early Tardigrade Research (1773 until 1929).
In R. O. Schill (Ed.), Water Bears: The Biology of Tardigrades (pages 1-55). Springer, Cham.

Ernst Marcus (1936), Tardigrada. Das Tierreich, 66. Lieferung. Berlin und Leipzig, 1-340.

Walter Maucci (1986), Tardigrada. S. 288-289.

Gustav Thulin (1928), Über die Phylogenie und das System der Tardigraden.
Hereditas 11, 207-266.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach