[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]

Diesmal wollen wir der Frage nachgehen, wie man ein Ei fotografiert - natürlich kein Hühnerei, sondern ein Bärtierchenei.
Kugelige und eiförmige Objekte haben neben der meist unzureichenden Transparenz einen weiteren, gravierenden Nachteil: Sie können im Lichtmikroskop, vor allem bei stärkerer Vergrößerung, wegen der beschränkten Schärfentiefe nur noch "scheibchenweise" scharfgestellt, betrachtet und fotografiert werden. Das ist natürlich gerade für uns bedauerlich: Viele Bärtiercheneier beeindrucken als wahre Wunderwerke der Symmetrie. Sie zählen - ähnlich wie die wesentlich bekannteren, spektakulären Diatomeen und Radiolarien - zu den wohl faszinierendsten Formen der lebendigen Mikrowelt, welche man gerne fotografieren und weiterzeigen möchte (es soll ja immer noch Leute geben, die glauben, daß die Mikrowelt ihres Gartens nur aus Amöben und Pantoffeltierchen besteht). Die Oktoberausgabe des Bärtierchen-Journals vom letzten Jahr vermittelt einen Eindruck von der Formenvielfalt der Bärtiercheneier.

Der grübelnde Praktiker holt nun seinen "Gerlach" oder ein anderes, solides Lehrbuch der Lichtmikroskopie aus dem Regal und wirft einen Blick auf die Kurvenscharen, welche die am Mikroskop erreichbare Schärfentiefe in Abhängigkeit von den Objektiveigenschaften und der Gesamtvergrößerung darstellen. Gehen wir mal von einem 40fach vergrößernden Mikroskopobjektiv mit einer numerischen Apertur von 0,65 aus: Die Bärtierchen-Eier haben typische Durchmesser zwischen 40 und 100 µm. Schon ein 4 cm kleines Abbild ist gegenüber dem 40 µm großen Ei um den Faktor 1000 vergrößert. Die Kurven im "Gerlach" geben für die genannte Apertur bei 1000facher Vergrößerung als Schärfentiefe einen Wert von nur 2 (!) µm, d.h. zwei Tausendstel Millimeter an. Das ist furchtbar wenig. Wenn wir auch nur die obere Halbschale eines kleinen Eies durchgehend scharf abbilden wollen, benötigen wir bereits eine Schärfentiefe von 20 µm, d.h. 10 mal mehr als laut Lehrbuch bei unseren Randbedingungen zur Verfügung steht.

Wir könnten uns natürlich auch auf eine Serie separater Fotos beschränken, welche entweder nur die uns zugewandte, oberste Partie des Eies oder aber seine Silhouette (die Schärfeebene maximalen Durchmessers) abbilden. Der umgebende Rest des Objekts wird immer in völliger Unschärfe versinken:


[Ei, Schärfebene 1] [Ei, Schärfebene 2] [Ei, Schärfebene 3]

Ein einigermaßen akzeptables Gesamtbild werden wir bei dieser Vorgehensweise jedenfalls nicht zuwege bringen.

Angesichts der dicken Präparate haben schon immer die Zeichner frohlockt. Ein geschickter Zeichner bewegt mit der linken Hand den Feineinstellungsknopf des Mikroskops, rechts hält er den Bleistift. Durch geduldiges Betrachten, Kurbeln und Zeichnen lassen sich die verschiedenen Schärfeebenen in Ruhe nacheinander betrachten und auf dem Papier zu einer einzigen Bildebene zusammenfassen. Hierin liegt ein wesentlicher Vorteil des mikroskopischen Zeichnens.

Der eine oder andere Leser wird vielleicht auch ein wenig neidisch auf die wunderbaren, plastischen Raster-Elektronenmikroskopfotos von Bärtiercheneiern in der Fachliteratur schauen. Schöne Beispiele finden sich in Walter Mauccis Monographie über die italienischen Bärtierchen und in Ian M. Kinchins Bärtierchenbuch (s.u. bei Literatur). Beim Raster-Elektronenmikroskop (REM) ergibt sich wegen der andersartigen Bilderzeugung eine gewaltige Schärfentiefe, von der wir Lichtmikroskopiker nur träumen können.

Wenn wir nicht zeichnen wollen oder können, stehen wir deshalb scheinbar nur noch vor der Wahl, entweder die Bärtierchen-Eier mitsamt den Insassen für unsere lichtmikroskopische Aufnahme massiv zu plätten oder aber eben ein teures REM einzusetzen. Ganz nebenbei bemerkt, zeigen natürlich die superscharfen REM-Bilder immer nur ein mausetotes Abbild vergangenen Lebens und nicht das Leben im Ei, wie wir es aus der Filmgalerie I kennen. Auch das Zitat des Monats beklagt die geringe Schärfentiefe und stimmt uns nicht gerade optimistisch.

Und doch - werfen Sie bitte einen Blick auf das lichtmikroskopische Foto unten.


[Bärtierchen-Ei]

Bärtierchen-Ei,
maximaler Durchmesser ca. 85 µm.
Nicht gepreßt - Lebendaufnahme.


Erst in der nächsten Ausgabe des Journals werden wir der Frage nachgehen, welcher Bärtierchenart das abgebildete, wunderschön symmetrische Ei zuzuordnen ist.
Hier interessiert uns vor allem die enorme Schärfentiefe. Man sieht ja fast so viel wie auf den REM-Fotos und farbig ist das Ganze auch noch! Die überraschende Lösung der genannten Schärfentiefeprobleme bewältigte ein geniales Computerprogramm: AstroStack© von Robert J. Stekelenburg (im Jahr 2001 als copyrightgeschützte Freeware kostenlos im Internet). Es kombiniert eine Serie von Fotos unterschiedlicher lichtmikroskopischer Schärfeebenen zu einer einzigen, durchgehend scharfen Fotografie. Für das oben gezeigte Bild habe ich nur drei Einzelaufnahmen verwendet und das gezeigte Summenbild erhalten.
In der Abbildung unten sehen Sie einen Screenshot, der das Programm bei der Arbeit zeigt. Ich finde, es ist eine feine Sache.


[AstroStack Screenshot]



Literatur

Dieter Gerlach: Das Lichtmikroskop. S. 118. 2. Auflage. Stuttgart 1985.

REM-Abbildungen von Bärtierchen-Eiern finden Sie in folgenden Monographien:
Ian M. Kinchin: The Biology of Tardigrades. S. 63. London 1994.
Walter Maucci: Tardigrada. Fauna d'Italia. Bd. 24. S. 19. Bologna 1986.



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© Text und Mikrofotos von  Martin Mach