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Unsere Taxonomie-Serie - in Kooperation mit Dr. Rolf Schuster**
Folge #3: Ramazzottius oberhaeuseri

In der, ansonsten nicht zu übertreffenden Tümpelwasser-Bibel mit dem Titel "Das Leben im Wassertropfen" führen die Bärtierchen eher ein Schattendasein. Die Autoren Heinz Streble und Dieter Krauter schließen ihr diesbezügliches Kapitel mit einem etwas deprimierenden Taxonomie-Resümee:
"Eine exakte Bestimmung anhand der Krallenformen, der Eiformen und der sklerotisierten Einlagerungen (Makroplakoide) im Pharynx ist schwierig."

Diese pessimistische Einschätzung trifft für die beiden großen Bärtierchen-Klassen (Eutardigrada und Heterotardigrada) gleichermaßen zu.
Ausgabe #3 der Taxonomie-Serie widmet sich nun allerdings einer erfreulichen Ausnahme: Ramazzottius oberhaeuseri (Doyère 1840) ist bereits bei niedriger Vergrößerung, unter dem Präpariermikroskop, gut zu identifizieren, und zwar wegen seiner Bänderung:


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Abb. 1: Totalportrait des Ramazzottius oberhaeuseri. Körperlänge knapp 0,4 mm (typisch sind ca. 0,3 bis maximal 0,5 mm). Ältere Namen waren Macrobiotus oberhaeuser(i) und Hypsibius oberhaeuseri. Auch die Schreibweise mit Umlaut (oberhäuseri) findet man gelegentlich, vorwiegend in der deutschsprachigen Literatur. Ein weiteres charakteristisches Artmerkmal sei hier gleich vorweggenommen: Bei Ramazzottius oberhaeuseri wird man nie Augenflecken (Sehzellenpigment) finden.

Ramazzottius oberhaeuseri wurde - sicherlich wegen seiner attraktiven Schotten-Pigmentierung - bereits in 19. Jahrhundert, aber auch noch im 20. Jahrhundert als quasi buchdruck-farbwürdig erachtet. So findet sich auch im liebevoll gestalteten Tardigradenbuch des Raoul-Michel May folgendes, von Künstlerhand erstelltes Bild:


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Abb. 2: Totalportrait des Ramazzottius oberhaeuseri, aus Raoul-Michel Mays "La vie des Tardigrades". Diese Mikrofauna-Charakterstudie erfasst die rundlich-kraftvoll anmutendende Körperform ausgesprochen treffend. Sie basiert anscheinend auf einer noch älteren Darstellung (vielleicht einem Aquarell) von Urbanowicz. Zur braunen bis rotbraunen Bänderung findet sich in der Fachliteratur ergänzend die schulmäßig-numerische Präzisierung, dass das Muster typischerweise aus 8 bis 9 horizontalen Reihen, in ca. 5 vertikalen Spalten, bestünde. Jungtiere sind normalerweise noch deutlich blasser pigmentiert.

Auch wenn beide obige Totalen mit dem Ziel einer anatomisch korrekten Darstellung angefertigt wurden, zeigt sich, genau wie beim Menschen, auch beim Bärtierchen die klassische Kluft zwischen ganzheitlichem Portrait und anatomischer Detailtreue: In den Ganzkörperbildern sind die taxonomisch wichtigen Schlundkopf- und Krallenausformungen bei weitem nicht so gut ablesbar wie in eigens erstellten, höher aufgelösten Detail-Abbildungen (vgl. Abb. 3 und 4).


Der Schlundkopf offenbart unter günstigen Bedingungen - bei schwacher Pigmentierung - ein Muster, das an die "4" eines Spielwürfels erinnert (Abb. 3). Er enthält pro Spalte zwei annähernd erbsenrunde Makroplakoide (zu sehen sind hier, wie üblich, lediglich zwei der drei Makroplakoidspalten mit jeweils zwei Makroplakoiden, die dritte Spalte liegt im Hintergrund, bereits außerhalb der Schärfe-Ebene):


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Abb. 3: Vorderkörper des Ramazzottius oberhaeuseri mit schwach ovalem bis kugeligem Schlundkopf. Die Speiseröhre ist mit ca. 1 µm Durchmesser extrem schlank. Hier passt nur fein zerteilte Nahrung durch - es ist von Pflanzensaft bzw. Pflanzenbrei auszugehen, was sicherlich nicht für ein räuberisches Bärtiertierchen im Stile von Milnesium tardigradum spricht! Bildbreite knapp 100 µm.

Die, an allen Beinen ähnlichen Krallenpaare vom Ramazzottius-Typ sind asymmetrisch gestaltet. Bereits bei relativ niedriger mikroskopischer Auflösung lassen sich die überlangen Hauptäste der Außenkrallen erkennen. Bei stärkerer Vergrößerung (Abb. 4) wird klar, dass diese Krallenäste über ein flexibles Gelenk mit der jeweiligen Krallenbasis (dem Krallenstamm) verbunden sind. Dies ist das gemeinsame Gruppen-Charakteristikum des Genus Ramazzottius.


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Abb. 4: Eines der beiden Krallenpaare am letzten Beinpaar des Ramazzottius oberhaeuseri. Der rote Pfeil zeigt auf das genuscharakteristische, hier löffelförmig erscheinende Krallenarmgelenk des Außenkrallen-Hauptastes. Dieser verharrt im Ruhezustand gestreckt, kann bei Belastung jedoch federnd ausweichen.
Aufnahme bei maximal möglicher Auflösung im Lichtmikroskop, mit Ölimmersionsobjektiv, Kondensorimmergierung und Schräglichtkontrastierung.

Die Eier von Ramazzottius oberhaeuseri werden, einzeln oder in geringer Zahl aneinander haftend, frei im Wasser deponiert. Sie sind verhältnismäßig klein (ca. 50 µm) und zeichnen sich durch eine charakteristische Irregularität aus: Während der Großteil der Ei-Ausschüsse halbkugelig geformt erscheint, zeigen sich in der Regel auch vereinzelte, spitz konisch zulaufende Ei-Ausschüsse (siehe Abb. 5, 6 und 8):


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Abb. 5: Reifes Ei des Ramazzottius oberhaeuseri. Durchmesser ca. 50 µm. Die meisten Ei-Ausschüsse sind annähernd halbkugelig geformt, mit linsenartig erscheinender Verdickung an der Außenseite.

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Abb. 6: Detail eines Eis von Ramazzottius oberhaeuseri mit regulärem und irregulärem (spitz zulaufendem) Ei-Ausschuss. Bildbreite ca. 20 µm. Im Innenvolumen ist ein bereits fertig ausgebildeter Mundapparat mit Speiseröhre und Stiletten zu sehen. Hier zeigen sich auch bereits die Makroplakoide in der oben beschriebenen, symmetrischen Viererkonfiguration.

Eine der besten Artbeschreibungen des Ramazzottius oberhaeuseri findet sich in Lucien Cuénots (1866-1951) Tardigraden-Monographie von 1932. Die darin abgedruckten Zeichnungen sind derart gut, dass wir sie unserer treuen Leserschaft nicht vorenthalten wollen:


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Abb. 7: Letztes Beinpaar des Ramazzottius oberhaeuseri. Auch hier ist die flexible Anbindung der überlangen Außenkrallenäste gut erkennbar. Weiterhin hat der Zeichner eine Granulation der Cuticula erfasst, die bei hoher Auflösung im Lichtmikroskop in der Regel deutlich sichtbar ist. Abbildung aus [Cuénot 1932].

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Abb. 8: Schlundkopf (links) und Ei (rechts) des Ramazzottius oberhaeuseri.
Abbildung aus [Cuénot 1932].

Sonstiges und teils gar nicht mal so Unwichtiges: Ramazzottius oberhaeuseri ist weltweit verbreitet, tritt beispielsweise regelmäßig am Erdboden auf abgeworfenem Herbstlaub auf, findet sich ansonsten eher in trockeneren Lebensräumen, wie periodisch austrocknenden Mauermoosen. Die Art zählt zu den Erstbesiedlungspionieren auf kargen Oberflächen, wie z.B. porösem Gestein ohne nennenswerten Moosbewuchs.


Ramazzottius oberhaeuseri widerfuhren mehrere taxonomische Umtaufen: Louis Doyère hatte ihn 1840 als Macrobiotus oberhaeuser erstbeschrieben, wohl zu Ehren des deutsch-französischen Mikroskopherstellers Georg Oberhäuser (1798-1868), der laut Wikipedia 1816 nach Frankreich auswanderte und dort als Georges Oberhaeuser bekannt und berühmt wurde.
Nach der Macrobiotus-Existenz folgte eine lange taxonomische Phase unter dem Namen Hypsibius oberhaeuseri. Diese mündete 1986, mit der Neudefinition des Genus Ramazzottius im aktuellen Speziesnamen Ramazzottius oberhaeuseri. Der Genusname Ramazottius ist übrigens Reverenz an den prominenten Tardigradenforscher Giulio Ramazzotti.

Und wer nun glaubt, dass auf diese Weise völlige taxonomische Ruhe eingekehrt sei, der irrt. Die folgende Aufnahme eines Ramazzottius oberhaeuseri-Verwandten aus Bamiyan stammt aus dem Jahr 2007. Sie zeigt ein Individuum mit auffällig langen Krallenästen, angesichts derer so mancher Taxonom sicherlich über eine potentiell neue Spezies nachgrübeln bzw. vorträumen würde!


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Abb. 9: Ein mutmaßlich oberhaeuseri-Verwandter aus Bamiyan (Afghanistan). Man beachte die ausnehmend langen Krallenäste im Vergleich mit Abb. 1 und Abb. 2.

Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

(*) Ab sofort gibt es einen, quasi mitwachsenden Bärtierchen-Bestimmungsschlüssel aus der Hand von Dr. Rolf Schuster: Hier geht es zum aktuellen Schlüssel !

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Lucien Cuénot: Tardigrades. S. 72. Monographie #34 der Reihe "Faune der France". Paris 1932.
Hieronim Dastych, The Tardigrada of Poland. Monografie Fauny Polski 16, 1-255. 1988.
Hartmut Greven, Die Bärtierchen. Wittenberg Lutherstadt 1980.
Ian M. Kinchin, The Biology of Tardigrades. London 1994.
Raoul-Michel May, La Vie des Tardigrades. Paris 1948.
Heinz Streble, Dieter Krauter, Das Leben im Wassertropfen. 3. Auflage, Stuttgart 1976.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach