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Das Bärtierchen Milnesium tardigradum - minimalistisch betrachtet

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Abb. 1: Milnesium tardigradum vom Dach eines Mülltonnenhäuschens (siehe letzte Journale). Das Foto reicht gerade aus, um einige charakteristische Eigenschaften der Art zu erahnen: Typische lange Krallenäste am letzten Beinpaar, näherungsweise wurmförmiger Körper, breite Mundröhre, konisch zulaufender Kopf, zwei Augenflecke. Sehfeld knapp 2 mm breit, Körperlänge des Bärtierchens ca. 0,5 mm.

Wie bitte? Sie meinen, dieses Bild sei fotografisch nicht so ganz auf dem Level des internationalen Nikon Mikro-Fotowettbewerbs? Okay, Sie könnten Recht haben. Man sollte allerdings hierbei die Entstehungsbedingungen berücksichtigen: Es wurde durch ein "Mikromann"-Mikroskop der Fa. KOSMOS aufgenommen, Baujahr 1957.


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Abb. 2: Das Mikroskop aus dem "Mikromann"-Experimentierkasten (Fa. KOSMOS, 1957). Man beachte die Drahtklammer-Klemmhalterung des Tubus zur Grobfokussierung und die auf den Tisch wirkende, quasi schräg tischverziehend werkelnde Konstruktion zur Feineinstellung. Der rechteckige Spiegelscherben wirkt ein wenig improvisiert, ist anscheinend zudem an einem zweckentfremdeten Drahtverbinderstück befestigt. Aus heutiger Sicht rührend antiquiert erscheint der damalige Slogan auf dem "Mikromann"-Pappkarton von 1957: "Der junge Forscher MIKROMANN schaut sich die Welt des Kleinsten an!"

Das Zubehör im "Mikromann"-Experimentierkasten zeichnet sich durch eine merkwürdige, gemischte Qualität aus. Mit enthalten ist auch das hier auf dem Holztisch liegende, hochwertige mikroskopische Dauerpräparat "Weizenkorn, quer". Dieses müsste man heute im Internet mühsam suchen und dementsprechend teuer bezahlen.

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Abb. 3: Dauerpräparat aus dem KOSMOS "Mikromann"-Experimentierkasten von 1957

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das etwa gleichzeitig in der DDR hergestellte Kleinmikroskop B für den Schulgebrauch in jeder Hinsicht um Längen voraus war. In der damaligen DDR nahm man die naturwissenschaftliche Allgemeinbildung offensichtlich sehr ernst. Mit diesem honorigen Ziel im Auge wurden, staatlich subventioniert, Hunderttausende hochwertiger Schüler-Kleinmikroskope produziert und an die Bildungseinrichtungen im Land verteilt. Jedes dieser Instrumente enthielt ein Satzobjektiv mit zwei makellosen, achromatischen Dublett-Elementen sowie ein orthoskopisches, ebenfalls achromatisch gepimptes Okular, alles ausgestattet mit feinen Gewinden sowie individuellen Seriennummern auf Mikroskopstativ und Objektiv.

Das westliche "Mikromann"-Mikroskop von 1957 zeichnet sich statt dessen durch konsequentes Mangelwesen aus: Im Heimwerkerstil gesägte Holzklötzchen fügen sich widerwillig zu einem grobschlächtigen Stativ. Und auch bei der Optik scheute man nicht davor zurück, den technischen Entwicklungsstand des frühen 19. Jahrhunderts nachzuahmen: Simple Einfachlinsen, keine Achromate.


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Abb. 4: Bilderzeugende optische Elemente des "Mikromann"-Mikroskopes von 1957.
Ganz links die Okular-Augenlinse - ohne Gewinde, wird einfach auf das Tubusrohr aufgelegt!
Mittig, hier kopfstehend, das Unterteil des Okulars mit Feldlinse (auch als Lupe zu verwenden).
Rechts, ebenfalls kopfstehend, das "Objektiv" - eine ziemlich kümmerliche Einfachlinse.
Zur Ehrenrettung sei angemerkt, dass Okular und Objektiv klugerweise das heute noch übliche Normmaß bzw. RMS-Normgewinde aufweisen, deshalb gegen weniger ärmliche Optik aus der Vorkriegszeit ausgetauscht werden konnten.

20 Jahre später produzierte die traditionsreiche Optikfirma in Rathenow immer noch das Kleinmikroskop, jetzt als Kleinmikroskop C, mit unveränderten optischen Eigenschaften. Im Westen entwickelte sich hingegen eine viel weiter gespreizte Schulmikroskop- und Amateurmikroskop-Produktpalette. Für die weniger bemittelten Bildungsbeflissenen gab es nach wie vor einen - nun optisch gnadenlos obsoleten - "Mikromann"-Experimentierkasten:


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Abb. 5: Inhalt eines KOSMOS "Mikromann"-Experimentierkastens von 1973. Mikroskop und Zubehör erinnern, teils schon regelrecht schmerzlich, an die KOSMOS-Vorgänger von 1957. Die einfachen Plankonvexlinsen bestehen nun allerdings aus Plexiglas (Einsparmöglichkeit!), und das Stativ aus einem ausgesprochen minderwertig wirkenden, schwarzen Kunststoff.

Andererseits enthält der Experimentierkasten von 1973, wie bereits oben für den Vorgänger illustriert, immer noch ein einzelnes hochwertiges Dauerpräparat, zwar nicht mehr mit dem schönen schwarzen Lackring, aber mit durchaus respektablem Inhalt: Radiolarien!


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Abb. 6: Detail aus dem Radiolarien-Dauerpräparat im KOSMOS "Mikromann"-Experimentierkasten von 1973. Die Längsachse des im Querschnitt ovalen Radiolariengehäuses misst exakt 100 µm. Mit Hilfe dieses Präpates lässt sich beispielsweise gut nachvollziehen, bis zu welchem Grad die berühmten Radiolarientafeln des Ernst Haeckel (1834-1919) grafisch idealisiert sind. Und leider klar, dieses Foto wurde nicht an einem "Mikromann"-Mikroskop aufgenommen ...

In der westlichen Mittelklasse gab es die "Enuro"-Mikroskope zu kaufen, deren optische Qualität, je nach Modell durchaus mit den ostdeutschen Kleinmikroskopen gleichziehen konnte. Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass die östlichen Kleinmikroskope relativ geringe Variationen aufweisen, während man in der unglaublichen Vielfalt der Enuro-Produkte bereits den Mannigfaltigkeitsirrsinn eines heutiges Supermarktes erahnen könnte.

Und wer im Westen so richtig Geld hatte oder wenigstens richtig Geld ausgeben wollte, konnte Labor- und Forschungsmikroskope von mindestens einem Dutzend unterschiedlicher Hersteller kaufen, angefangen bei Zeiss, Leitz, Olympus und Nikon, fortgesetzt mit Hertel & Reuss, Beck, Steindorff und diversen anderen Anbietern, bei denen allerdings der Übergang zwischen Eigenproduktion und bloßem Weiterverkauf gelegentlich fließend erscheint. Die in den 1970er Jahren mit dem Kauf eines KOSMOS "Forschungsmikroskopes" oder eines KOSMOS "Darwin Super" vermeintlich erworbene Grandezza verschlang allerdings locker den Gegenwert eines bundesdeutschen Monatsgehalts.

Die Ost-West-Analogien zu anderen Produktwelten, wie der immer wieder gerne mit herangezogenen Autoproduktion (DDR-Kleinmikroskop und DDR-"Trabant" vs. "Mercedes") liegen auf der Hand. Es könnte aber auch hier ungemein peinlich enden, wenn wir, wie im Internet häufig zu beobachten, wieder mal das Spitzenmodell eines Mikroskopherstellers provinziellerweise mit einem Mercedes vergleichen würden. Liebe Leute, für derart kleingeistige Vergleiche sollte man dann doch wenigstens Aston Martin oder Bugatti bemühen!



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach