Das Bärtierchen-Journal
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"Der ist ja ganz gelb!"  - Macrobiotus coronifer und Kollegen -

1859 veröffentlichte der berühmte Berliner Zoologe Christian Gottfried Ehrenberg einen spektakulären Artikel mit dem Titel "Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe". Bei den Illustrationen scheute Ehrenberg keinen Aufwand: Das vom Monte Rosa stammende Bärtierchen Macrobiotus furcatus  bringt er in sage und schreibe 26 cm Länge (!) zu Papier. Mit der Akribie des Profi-Wissenschaftlers beschreibt er seinen bislang nur schwarzweiß abgebildeten  Macrobiotus furcatus  auch verbal, nun in Farbe:

Die Farbe des frischen Thiers war lebhaft gelbbraun.

Was meint er nun mit der Farbe des  frischen  Tiers?
In der Fachliteratur finden sich ganz allgemein nur wenige Farbbeschreibungen, welche der Artbestimmung von Bärtierchen dienen.
Böswillige Kritiker der Biologenzunft ersinnen ja regelmäßig Ausdrücke wie "Wurmschnippler" oder "Formalinbruder", wodurch das manchmal recht zerstörerische Wesen der biologischen Forschung decouvriert werden soll. Auch bei den Dauerpräparaten von Bärtierchen bleibt die Körperfarbe regelmäßig auf der Strecke, hingemeuchelt von aggressiven Chemikalien. Das leuchtende Ziegelrot der Echiniscen reduziert sich so auf armselige, wässrige Kleckse, auch andere Farben, wie das von Ehrenberg erwähnte Gelb verblassen oder verändern sich.
Strukturelle Merkmale hingegen, wie z.B. die Krallenform der Bärtierchen, oder die manchmal sehr feine Oberflächenskulpturierung der Cuticula, bleiben im Dauerpräparat erhalten und können oft auch nach 100 Jahren dort noch nachkontrolliert werden. Kein Wunder also, daß die Wissenschaft den nicht verblassenden Eigenschaften gerne den Vorzug gibt und die anderen im Zweifel wegläßt.

Wie wissen jedoch dank der Beschreibung von Ehrenberg, daß das von ihm beobachtete Tier vom Monte Rosa im lebendigen Zustand intensiv gelbbraun gefärbt war.

Um Ihnen, liebe Leserinnen und Leser einen Eindruck einer derartigen Farbe zu vermitteln, bilden wir hier einen ebenfalls lebhaft gelbbraunen Bärtierchen-Alpinisten aus Bayern ab:


[ gelbes Bärtierchen aus den bayerischen Voralpen ]

Intensiv gelbbraunes Bärtierchen.
Kommt in Bayern fast ausschließlich in gebirgigem Umfeld vor.
Standbild aus einem Video. Körperlänge ca. 600 µm.


Ehrenberg schreibt weiter:
Die Krallen ... haben einen fast scheibenförmigen gezahnten Basaltheil ... dessen Form und Zusammenhang nie recht scharf wurde.


Schauen wir unserem bayerischen Exemplar auf die Füße. Auch wir haben ein wenig Probleme mit der Schärfe:


[ gelbes Bärtierchen aus den bayerischen Voralpen ]

Intensiv gelbbraunes Bärtierchen. Detail: Krallen des letzten Beinpaars.
Standbild aus einem Video. Dunkelfeldaufnahme.
Körperlänge ca. 600 µm.


[ gelbes Bärtierchen aus den bayerischen Voralpen ]

Intensiv gelbbraunes Bärtierchen. Detail: Krallen eines Beines des letzten Beinpaars.
Standbild aus einem Video. Hellfeldaufnahme. Körperlänge ca. 600 µm.


Ehrenberg bildet gleichzeitig mit seinem Macrobiotus furcatus ein stacheliges Ei ab. Auch wir haben so etwas in der Nähe unseres Alpinisten gefunden:


[ gelbes Bärtierchen aus den bayerischen Voralpen ]

Intensiv gelbes Bärtierchen-Ei.
Maximaler Durchmesser knapp 150 µm.


Noch ein Blick auf den Schlundkopf:


[ gelbes Bärtierchen aus den bayerischen Voralpen ]

Gelbbraunes Bärtierchen. Detail mit Schlundkopf, Speiseröhre und Stiletten. Zwei runde Makroplakoide, kein Komma.

Auch der Schlundkopf des Bayern sieht ähnlich aus wie der des gezeichneten Macrobiotus furcatus bei Ehrenberg.

Wer nun glaubt, jetzt sei alles klar, täuscht sich gewaltig:
Die bei Ehrenberg noch hochgehaltene, intensiv gelbbraune Farbe verblaßt in der Literatur zusehends. Ernst Marcus erwähnt sie in seiner Monographie von 1928 bei der Beschreibung der Eigenschaften von Macrobiotus furcatus jedenfalls mit keinem Wort.
1936 charakterisiert Ernst Marcus den Teint unseres Alpinisten Macrobiotus furcatus  als "mit kleinen grauen Körnern erfüllt", stellt aber gleichzeitig fest, daß "erwachsene, französische Stücke" laut Cuénot blaßgelbe oder goldgelbe bis orangerote Speicherzellen hätten.


Und nun steigt ein neuer Stern in der Taxonomie auf: Macrobiotus coronifer RICHTERS (1903). Dieser hat genau die Eigenschaften von Ehrenbergs ursprünglichem Macrobiotus furcatus, mit im Auflicht chromgelben, im Durchlicht ockerfarbenen Speicherzellen ... und wird dann auch noch 1981 in  Adorybiotus coronifer  umbenannt.
Dumm gelaufen für den alten Macrobiotus furcatus.

Bleiben Sie dran und verzweifeln Sie nicht, o.k.?
Wie langweilig wäre es doch, wenn unsere Bärtierchen sich einfacher bestimmen ließen !

Bildbeispiele aus Ehrenbergs prunkvoller Arbeit zeigen wir in der nächsten Ausgabe.



Literatur

Christian Gottfried Ehrenberg: Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe. S. 455. Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1859.

Ernst Marcus: Bärtierchen. S. 135 [Beschreibung von Macrobiotus furcatus]. Jena 1928.

Ernst Marcus: Tardigrada. S. 153 [Beschreibung von Macrobiotus furcatus]. Berlin 1936.

Ferdinand Richters: Nordische Tardigraden [Beschreibung von Macrobiotus coronifer auf S. 171].
Zoologischer Anzeiger 27 (1903) 168-172.

Hieronim Dastych: The Tardigrada of Poland. S. 69 - 71 [Beschreibung von Adorybiotus coronifer, mit hervorragenden Zeichnungen]. Warschau 1988.

Walter Maucci: Fauna d'Italia: Tardigrada. S. 227 - 230 [Beschreibung von Adorybiotus coronifer]. Bologna 1986.

Walter Maucci, Giulio Ramazzotti: Adorybiotus gen. nov.: nuova posizione sistematica per Macrobiotus granulatus Richters, 1903 e per Macrobiotus coronifer Richters, 1903 (Tardigrada, Macrobiotidae). Mem. Ist. Ital. Idrobiol., Pallanza 39 (1981) 153 - 159.


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© Text und Fotos von  Martin Mach