Das Bärtierchen-Journal
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Allgegenwärtige Mikrofauna: im Wasser, in der Luft, an Land

Vor 150 Jahren, am 12. August 1855, füllten die Doktores Hermann und Adolph Schlagintweit, zwei Brüder, ein bißchen weißen, anscheinend stark quarz- und glimmerhaltigen Sand in ein "2½ zölliges, cylindrisches Holzbüchschen mit halbzölliger Weite des inneren Raumes".
Das Probengefäß wurde sorgfältig verschlossen, mit der Ziffer "1" beschriftet und später in einen Beutel aus dicht schließender Wachsleinwand eingenäht.

Es schadet in diesem Zusammenhang nicht, wenn man weiß, daß der dritte Schlagintweit-Bruder, Rudolph, zwei Jahre vorher bei einer gemeinsamen, wissenschaftlichen Expedition in Kaschgar Opfer einer lokalen, kriegerischen Auseinandersetzung wurde.
Am 12. August 1855 befanden sich die zwei überlebenden Brüder jedenfalls auf dem Gipfel des Ibi Gamin-Passes im Himalaya, in 20.000 Fuß Höhe. Dort sammelten sie insgesamt 8 Boden- und Bewuchsproben auf, welche später von dem berühmten Kleinleben-Erforscher Ehrenberg in Berlin untersucht werden sollten.

Auf der Basis dieser und anderer nicht minder extremer Probenahmen veröffentlichte Christian Gottfried Ehrenberg 1859 seinen grundlegenden Artikel "Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe", dem wir diese Ausgabe des Bärtierchen-Journals widmen wollen.

Ehrenberg wollte nicht nur exotische Kleintiere entdecken. Vielmehr ging es ihm darum, die Allgegenwärtigkeit des kleinen Lebens zu dokumentieren und die durch Myriaden an Kleinstlebewesen ausgelösten, gigantischen Summenwirkungen zu veranschaulichen.

Mikrofauna im Wasser
Ehrenberg weist in seinem Artikel auf die Parallelen zwischen der dünnen Besiedlung klaren Ozeanwassers und der Schneehöhen des Himalaya hin: in beiden Situationen ist das Leben nicht unbedingt augenfällig, bei geeigneter Suche (Planktonnetz, Mikroskop) jedoch allgegenwärtig. Ehrenberg hatte bereits vorher anhand fossiler Radiolarien maritimen Ursprungs gezeigt, daß winzige Schalen von abgestorbenen Kleinorganismen gewaltige Gebirge auftürmen können. Erst der Zoologe Thomas Huxley fand dann schließlich 1851 die zugehörigen  lebenden  Radiolarien im Mittelmeer. Sehr kleine Individuen - aber in der Masse von großer Wirkung, und sei es nur im gemeinsamen Grab.


[ Radiolarie aus dem Mittelmeer ]

Lebende Radiolarie
aus dem Mittelmeer.
Ø ca. 0,2 mm.

Nord-Korsika, Planktonnetzfang, Uferbereich,
ca. 50 m vor der Küste.


Mikrofauna in der Luft
Ehrenberg geht in seinem Artikel auch der Frage nach, inwieweit das an extremen Orten vorgefundene Kleinleben möglicherweise aus der Luft stammen könne, d.h. lediglich angeweht und vor Ort nicht lebensfähig sein könnte.
Nicht zuletzt dank der in den Proben vom Himalaya vorgefundenen Bärtierchen (s.u.) sprechen jedoch, wie Ehrenberg in seinem Artikel erklärt, gewichtige Gründe für ein stationäres Leben hoch oben auf dem Himalaya: die Anreicherung der Bärtierchen in den Moosproben sowie das Vorkommen sämtlicher Entwicklungsstadien, d.h. von Eiern, jungen und alten Tieren, sind am einleuchtendsten durch ein aktives Leben der Bärtierchen auf den Höhen des Himalaya zu erklären.
Ehrenberg vergleicht die in den Proben gefundenen Kleinorganismen mit denen, welche als Reisende des Passatstaubes bekannt sind.
Da die Bärtierchen vom Wind jedoch nur sehr selten weitertransportiert werden, müssen wir hier die "windigen" Kameraden leider weglassen. Es sei lediglich kurz angemerkt, daß die Biologie des luftransportierten Staubes im 19. Jahrhundert einen durchaus ernsten Hintergrund hatte: Manche Forscher führten den neuerlichen Ausbruch der Cholera in Europa auf Infektionen durch den Luftstaub zurück. Auch heute noch sehr lesenswert ist z.B. die umfassende und umfangreich illustrierte Analyse des Grazer Stadtstaubes durch den österreichischen Professor Fritz Unger im Jahr 1849 (!) [siehe Literatur].

Mikrofauna auf der Erde
In der oben erwähnten Probe 1 vom Gipfel des Ibi Gamin-Passes fand Ehrenberg unter anderem zwei "Bärenthierchen" welche er als Macrobiotus eminens bezeichnet.


[ Bärtierchen ]

Bärtierchen "Macrobiotus eminens" vom Gipfel des Ibi Gamin-Passes (Himalaya, 20.000 Fuß Höhe).
Abbildung aus: C. G. Ehrenberg, Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe. Tafel II. Berlin 1859.


In ebenfalls sehr respektabler Höhe ließen sich Bärtierchen der Gattung  Milnesium  nachweisen, welche bei unseren Lesern seit langem bekannt ist. Wir haben bei Milnesium ja sogar schon gemeinsam in den  Magen  geschaut,   Blickkontakt  gesucht sowie   Nerven und Muskeln  ganz friedlich, von außen, besichtigt.


[ Radiolarie aus dem Mittelmeer ]

Bärtierchen "Acrophanes Schlagintweitii (Milnesium Schlagintweitii)" vom Milum-Paß (Himalaya, 18.000 Fuß Höhe), im Häutungsstadium.
Abbildung aus: C. G. Ehrenberg, Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe.
Tafel I. Berlin 1859.


[ Bärtierchen, hist. Abbildung ]

Bärtierchen "Acrophanes Schlagintweitii (Milnesium Schlagintweitii)".
Detail einer leeren Kutikula (Kopfbereich mit zwei Papillen und 6 Mundlippen).

Abbildung aus:
C. G. Ehrenberg, Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe. Tafel I. Berlin 1859.


In einer Probe vom vergleichsweise flachen ;-)  Monte Rosa fand Ehrenberg den  Macrobiotus furcatus :


[ Bärtierchen ]

Bärtierchen "Macrobiotus furcatus" (vom Monte Rosa, ca. 11.000 Fuß Höhe).
Abbildung aus: C. G. Ehrenberg, Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe. Tafel II. Berlin 1859.


Ehrenberg kommt übrigens in manchen modernen Konversationslexika überhaupt nicht mehr vor. Klar, wir brauchen in den Lexika mehr Platz für die Vita von Fußball-Torwarten, Filmsternchen, Pop-Stars, für Adelshochzeiten usw. usf.
Hier im virtuell-staubigen Bärtierchen-Journal ist Ehrenberg allerdings schon zum zweiten Mal präsent. Wenn Sie noch ein wenig Zeit haben, lesen Sie doch bitte eine sehr menschliche Momentaufnahme  hier  nach.

Bis zu zum nächsten Monat !



Literatur

Christian Gottfried Ehrenberg: Beitrag zur Bestimmung des stationären mikroskopischen Lebens in bis 20,000 Fuß Alpenhöhe. Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften.
S. 429 - 456, plus Artenliste und drei Kupferstichtafeln. Berlin 1859.

Fritz Unger: Mikroskopische Untersuchung des atmosphärischen Staubes von Gratz. Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. S. 1 - 8. Mit 5 farbigen Kupferstichen. Wien 1849.


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© Text und Fotos von  Martin Mach